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Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Foto: Reuters

Dass Olga Tokarczuk jetzt den 2018 nicht verliehenen Nobelpreis für Literatur erhält, soll ihre schriftstellerische Leistung nicht schmälern. Selbstverständlich ist diese Auszeichnung aber auch politisch zu betrachten. Immerhin tritt die 57-jährige Polin mit ihrem Grenzen und Gattungen sprengenden Werk immer auch für eine unverhandelbare Freiheit des Individuums ein. Genau dies versucht das gegenwärtige, seit 2015 die Regierung stellende, streng rechtskatholisch auftretende Law-and-Order-Regime zu unterbinden.

Allein dessen Behauptung, dass es sich bei Polen um eine homogene christliche Nation handeln soll, ist angesichts der multiethnischen Geschichte und der fließenden Grenzen des Landes eine Provokation. Von der Schließung der polnischen EU-Grenzen gegenüber Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten, der Einschränkung der Pressefreiheit und der freien Lehre sowie der massiven Kürzungen beziehungsweise Erpressungen durch die Ankündigung von Subventionsstreichungen im kulturellen Bereich ganz zu schweigen.

Stimme der Opposition

Gleiche Rechte für homosexuelle Paare werden in Polen ebenso verweigert, wie ein Gesetz beschlossen wurde, das jedwede öffentliche Diskussionen über Kollaborationen der Polen mit dem Nazi-Regime während des Zweiten Weltkriegs unter Strafe stellt.

Olga Tokarczuk dazu in einem Gastbeitrag in der "New York Times": "Das staatliche Fernsehen, aus dem die meisten Polen ihre Nachrichten beziehen, macht konsequent und in einer aggressiven und diffamierenden Sprache die politische Opposition und alle andersdenkenden Menschen schlecht."

Vielleicht auch deshalb begründete die Schwedische Akademie ihre Entscheidung für Tokarczuk damit, dass es sich bei der Autorin um eine Stimme handle voller "erzählerischer Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft das Überschreiten von Grenzen als Lebensform" wählt – und dafür in Polen oft wüste Kritik und Beschimpfungen von nationalistischer Seite einstecken muss.

Metaphysische Märchen

Bekannt geworden ist Olga Tokarczuk als Schriftstellerin ab Ende der 1980er-Jahre. Zuvor arbeitete die Psychologin nach dem Abschluss ihres Studiums 1985 einige Jahre in der Drogentherapie, so lange, bis ein Burnout kam: "Ich bin zu neurotisch, um als Therapeutin zu arbeiten."

1989 erschien in Polen ihre Gedichtsammlung "Städte in Spiegeln". Ihr Romandebüt "Reise der Buchmenschen", eine Parabel über ein Liebespaar, das sich im 17. Jahrhundert auf die "Suche nach dem Geheimnis des Buches" beziehungsweise nach dem Sinn des Lebens macht, folgte 1993 und bescherte ihr in Polen einen Erfolg bei den Lesern wie bei der Kritik. Ihr dritter und bis dato erfolgreichster Roman "Ur und andere Zeiten" brachte ihr 1996 auch den internationalen Durchbruch.

In ihm schildert Tokarczuk ausgehend vom Jahr 1914 anhand des fiktiven ostpolnischen Städtchens Ur die Geschicke Polens im 20. Jahrhundert aus der Sicht der vier Erzengel Raphael, Uriel, Gabriel und Michael. Stilistisch wurde der mit skurrilen Ur-Protagonisten gut angereicherte und keinesfalls stringent verlaufende Roman laut Tokarczuk als metaphysisches Märchen voller Rätsel und Parabeln angelegt.

Esoterisch angehaucht

Esoterisch angehaucht und auch immer wieder im Sinne alter osteuropäischer Mythen, Sagen und Märchen gehalten sind auch aktuelle Werke wie "Unrast" von 2009 oder das soeben auf Deutsch veröffentlichte Schwergewicht "Die Jakobsbücher". Mit über 1.100 Seiten ist es als "historischer Roman" über das Leben der historischen Figur Jakob Josef Frank konzipiert, der im 18. Jahrhundert durch Europa und das Osmanische Reich streift, Religionen und Weltanschauungen ebenso wechselt wie seine Biografien und als "Martin Luther" der Juden gilt.

Es ist ein Opus magnum mit mehreren Böden, voller gefälschter und echter Dokumente, Akten, Berichte, Münchhausiaden. Es erzählt aus unzähligen Perspektiven die Geschichte eines rastlosen Freigeists, der sein Volk, die Juden Osteuropas, für die Moderne öffnen will und sich für deren Freiheit, Gleichheit und Emanzipation einsetzt. Mithin hat Olga Tokarczuk also wieder einen Grenzen sprengenden, speziell auch in Polen kontroversiell aufgenommenen zeitgenössischen Roman geschrieben. (Christian Schachinger, 10.10.2019)