Eine Alzheimer-Diagnose ist eine katastrophale Nachricht. Die Aussicht, dass ein Mensch nach und nach sein Denk- und Sprachvermögen, seine Erinnerung und seine Handlungsfähigkeit verlieren wird, ist ein schwerer Schlag für Patienten wie Angehörige. Heilbar ist die Krankheit nicht. Die Behandlungen konzentrieren sich heute großteils auf ein langes Aufrechterhalten der Selbstständigkeit.

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Im Gehirn eines Alzheimer-Patienten sterben Nervenzellen ab, Botenstoffe werden nicht mehr gebildet, die Hirnmasse nimmt ab.
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Im Gehirn eines Alzheimer-Patienten sterben Nervenzellen ab. Botenstoffe werden nicht mehr gebildet. Die Hirnmasse nimmt ab. Gleichzeitig schafft es die körpereigene "Müllabfuhr" nicht, die abgestorbenen Zellen abzutransportieren, und es bilden sich die für die Krankheit charakteristischen Ablagerungen im Gehirn. Neben dem Alter und einer Reihe weiterer mutmaßlicher Risikofaktoren tragen Vererbung und genetische Faktoren in vielen Fällen zur Entstehung bei. Man weiß beispielsweise, dass oxidativer Stress in den Zellen eine Rolle spielt. Doch wo die Krankheit konkret ihren Ausgang nimmt, ist noch weitgehend unbekannt. Es ist noch nicht einmal klar, warum fast nur alte Gehirne betroffen sind.

Starting Grant des Europäischen Forschungsrats

Jerome Mertens ist einer jener Wissenschafter, die das gerne ändern möchten. Der 1983 geborene Zellbiologe leitet seit zwei Jahren das Neural-Aging-Labor am Institut für Molekularbiologie der Uni Innsbruck, wo er sich der Forschung an den molekularen und zellulären Ursachen der Gehirnalterung und der Alzheimer-Krankheit widmet. Dafür wurde der in Niedersachsen geborene Absolvent der Universität Bonn heuer mit einem 1,5 Millionen Euro schweren Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) ausgestattet – der neunte, der bisher an die Uni Innsbruck ging.

Eine der wichtigsten Fragen bei der Erforschung von Gehirnerkrankungen ist: Woher nimmt man überhaupt den Gegenstand der Forschung, also die Nervenzellen, her? "Man kann schlecht in den Park gehen und nach einer Gehirnspende fragen", scherzt Mertens. Die Zellen von verstorbenen Patienten haben eine zu schlechte Qualität, um sie sinnvoll nutzen zu können. Am verbreitetsten ist die Forschung an Tiermodellen. "Man weiß mittlerweile, welche Prozesse bei gentechnisch erzeugten Tiermodellen wie Mäusen oder Fliegen eine Rolle spielen", sagt Mertens. "Die Schwierigkeit liegt in der Frage, ob sie auch auf den menschlichen Patienten übertragbar sind."

Alzheimer Forschung Initiative e.V.

Die Stammzellenforschung der vergangenen Jahrzehnte hat neue Möglichkeiten gebracht, nun doch mit menschlichen Nervenzellen arbeiten zu können. Ein Weg geht über iPS-Zellen (induzierte pluripotente Stammzellen): Hautzellen werden dabei zu Stammzellen umprogrammiert, die sich dann wiederum zu verschiedenen Körperzellen – in diesem Fall zu Neuronen – ausdifferenzieren lassen. "Die Arbeit mit iPS-Zellen ist für die Gehirnforschung nach wie vor höchst relevant", betont Mertens. "Sie ahmen den Entwicklungsprozess im Gehirn nach und eignen sich sehr gut für die Untersuchung von Störungen in diesem Bereich." Für die Alzheimer-Forschung sind Zellen, die die Reife eines älteren Gehirns widerspiegeln, besser. Mertens: "Wir wollen kein Experiment mit jungen Neuronen, das 80 Jahre dauert."

Zellverwandlung ohne Umweg

In jüngster Zeit hat sich nun eine neue Möglichkeit aufgetan, Zellen direkt und ohne den Umweg über Stammzellen umzuwandeln. Dabei werden in Hautzellen, beispielsweise von Alzheimer-Patienten, bestimmte Moleküle – Genmaterialien und Nährstoffe – eingebracht. Die Forscher nutzen eine molekularbiologische Methode, das sogenannte Tet-on-System, um die Genexpression zu steuern. "Einfach gesagt schalten wir rekombinante Gene, die wir kontrollieren, ein. Die Hautzelle verwandelt sich dadurch in wenigen Wochen in eine Nervenzelle, dann stoppen wir den Prozess wieder", veranschaulicht Mertens, der mit diesem System bereits bei seinem fünfjährigen Postdoc-Aufenthalt am Salk Institute for Biological Studies in San Diego arbeitete. "Die Zellen entsprechen nicht zu 100 Prozent jenen im Gehirn. Wir glauben aber, dass wir ein gutes Abbild bekommen."

Der Ansatz wird in Innsbruck mit einer Methode aus dem Bereich der Bioinformatik kombiniert: Ein Fingerabdruck des Epigenoms, der den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Genexpression, die Umwandlung der Geninformation in Proteine und Metaboliten, festhält, soll als großer Datensatz entstehen. Eine Analyse dieser breiten und komplexen Daten ist schwierig und bedarf etwa komplexer statistischer Methoden. "Es ist ein Mittel, das für die Bildung von Hypothesen hilfreich ist", sagt Mertens. "Man kann dann versuchen, sie funktionell nachzuweisen und Querverbindungen zur klinischen Praxis herzustellen." Die Analysen könnten letzten Endes etwa Aufschluss über Unterschiede zwischen den Nervenzellen junger und denen älterer Personen, die dement werden, geben.

ERC-Grant für Stammzellforschung: Jerome Mertens, Leiter des Neural-Aging-Labors an der Uni Innsbruck
Foto: UIBK

Die Wissenschafter konnten bereits erste Erkenntnisse aus der Arbeit mit ihren direkt umprogrammierten Nervenzellen gewinnen: "Man ging lange Zeit davon aus, dass die Zellen im Zuge einer Alzheimer-Erkrankung beschädigt werden", schickt Mertens voraus. "Wir sehen nun in unseren bisher unpublizierten Daten, dass die betroffenen Zellen weniger von außen beschädigt scheinen, sondern dass sie – aus nach wie vor unbekannten Gründen – ein aktives Programm fahren, durch das sie ihre Reifemerkmale verlieren. Sie gehen sozusagen in der Entwicklung einen Schritt zurück." Die Zellen sind alt, aber plötzlich nicht mehr vollständig ausgebildet. (Alois Pumhösel, 14.10.2019)