Dunkel glänzt der frische Asphalt auf der Prater Hauptallee. Zwischen Kaiserallee und Stadion, also dort, wo die Fahrbahn der Prachtallee bis vor einigen Wochen noch ein ziemlicher Fleckerlteppich war, kann man derzeit auf einem der wohl perfektesten Straßenbelägen überhaupt laufen.

Das Streben nach körperlicher Fitness ist Ausdruck einer Leistungsbereitschaft und findet sich deshalb auch in Form eines entsprechenden Verweises in fast jedem Lebenslauf. Das Erwähnen einer Sportart gilt als Fixpunkt eines jeden Bewerbungsschreibens.
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Der Grund dafür: Nach einem knapp gescheiterten Versuch vor zwei Jahren am Formel 1-Ring von Monza, soll hier demnächst erneut an der Zwei-Stunden-Marathonmarke gekratzt werden. Viereinhalb Mal wird der Kenianer Eliud Kipchoge zwischen Praterstern und Lusthaus pendeln, um so die 42,2 Kilometer zurückzulegen.

Nicht weniger als zwanzig Pacemaker werden ihm dabei behilflich sein. Sollte die Übung gelingen, wird damit Marathongeschichte geschrieben. Der aufwendig vermarktete Event ist ein weiterer Beleg für die Popularität des Laufsports. Woher rührt diese Begeisterung, die seit Jahren anwächst und Menschen quer durch alle gesellschaftlichen Schichten erfasst?

Sport in Reinform

Eine Anekdote als erster Klärungsversuch: Ein befreundeter Hobbyläufer aus Spanien erzählte mir, dass in Folge der dortigen Wirtschaftskrise das Niveau bei Laufveranstaltungen signifikant gestiegen sei. Die hohe Arbeitslosigkeit hatte viele Menschen in den Sport getrieben. Das galt vor allem für den Laufsport, der aufgrund seiner geringen Anforderungen in Bezug auf das notwendige Equipment besonders attraktiv für Menschen ist, die nicht viel investieren können.

Jeder gesunde Mensch kann laufen. Alles was man dazu braucht, ist geeignetes Schuhwerk. Und manche brauchen nicht einmal das. Laufen ist Sport in absoluter Reinform. Deshalb ist Sport, ganz egal welcher Ausprägung, immer auch Laufen. Keine Sportart, die beim Training das Laufen nicht in irgendeiner Variante integriert hätte. Wer auch immer körperliche Höchstleistungen vollbringen möchte, ganz egal in welchem Bereich, wird in der einen oder anderen Form immer auch laufen. Eine hinreichende Erklärung für die Faszination, die der Laufsport auf immer mehr Menschen ausübt, ist dieser Umstand dennoch nicht.

Generell erfreuen sich Laufevents steigender Popularität. Es wirkt, als hätte jede Stadt oder Region ihren Marathon.
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Gleich mehrere andere Faktoren scheinen mitverantwortlich. Einerseits passt der Sport perfekt in eine Gesellschaft, die Selbstoptimierung und Leistungsfähigkeit zu ihren höchsten Zielen erhoben hat. Beim Hürdenlauf durch die verschiedenen Instanzen, die unsere Gesellschaft für jeden einzelnen von uns bereithält, geht es längst nicht mehr bloß um fachliche Kompetenz, sondern um ein umfassendes Persönlichkeitsbild, das möglichst gut auf diese Herausforderungen abgestimmt ist.

Das Streben nach körperlicher Fitness ist Ausdruck einer Leistungsbereitschaft und findet sich deshalb auch in Form eines entsprechenden Verweises in fast jedem Lebenslauf. Das Erwähnen einer Sportart gilt – neben den bekannten Codes, die Bildung suggerieren sollen, wie etwa lesen und reisen – als Fixpunkt eines jeden Bewerbungsschreibens. Die Marketingstrategen der Sportveranstaltungen haben das erkannt und setzen ebenfalls eifrig auf diesen Faktor: Die deutlichste diesbezügliche Ausprägung sind Veranstaltungen wie die allerorts boomenden Businessruns, die unternehmerischen Erfolg über das Schlagwort der Teambildung an den Laufsport rückkoppeln und dadurch selbst genau zu dem werden, was sie zu befördern vorgeben: erfolgreiche Unternehmen.

Antikes Hoffnungsbild

Aber ganz generell erfreuen sich Lauf-Events steigender Popularität. Es wirkt, als hätte bereits jede Stadt oder Region ihren Marathon. Der namensgebende Verweis auf die Antike – jedes Kind kennt die Legende von dem Boten, der die Strecke von Marathon nach Athen laufend zurücklegte, um von einer siegreichen Schlacht gegen die Perser zu berichten – gilt dabei einmal mehr als Beleg für Vollkommenheit und Reinheit dieses Sports, und stellt ihn gleichzeitig in eine Reihe mit zivilisatorischen Errungenschaften wie Demokratie und Philosophie.

Beim Vienna City Marathon 2019 war der aus Äthiopien stammende Lemawork Ketema, der 2012 nach Europa geflüchtet war, Österreichs schnellster Läufer.
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Vielleicht liegt es ja auch ein wenig daran, dass der Laufsport über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweg zu begeistern vermag und sogar von den als hedonistisch und sportkritisch verschrienen Intellektuellen akzeptiert scheint. Adeln doch nicht zuletzt auch wiederkehrende literarische Verweise die Disziplin. Alan Sillitoes Einsamkeit des Langstreckenläufers (1959) oder der explizite Erfahrungsbericht Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede (2008) des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami haben hierfür Modellcharakter.

In meinem Roman Fast ein Wunder erzähle ich die Geschichte eines aus Afrika geflüchteten Mannes, der in der Teilnahme am Vienna City Marathon die Möglichkeit sieht, auf seine ausweglose Situation hinzuweisen. Ausgerechnet auf der Prater Hauptallee versucht auch der Held meiner Geschichte in ein besseres Leben zu laufen. Während ich den Text geschrieben habe, hatte die Realität die Fiktion längst eingeholt: Beim letzten Vienna City Marathon war der aus Äthiopien stammende Lemawork Ketema, der 2012 nach Europa geflüchtet war, Österreichs schnellster Läufer.

Nach einem knapp gescheiterten Versuch 2017 auf dem Formel-1-Ring von Monza will der kenianische Marathonläufer Eliud Kipchoge nun im Wiener Prater die Zwei-Stunden-Marker knacken.
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Damit reicht das Assoziationsfeld dieser Sportart längst über die eingangs beschriebenen Bereiche heraus und berührt ein Gefüge, in dem Aspekte der Migration und Globalisierung eine zentrale Rolle spielen. Tatsächlich ist der Laufsport in Teilen Afrikas – ähnlich wie der Fußball in den Favelas Südamerikas – für von Armut und Vertreibung betroffene Menschen zu einem Hoffnungsbild geworden. Ein Umstand, der sich auch in den Integrationsmaßnahmen widerspiegelt: Wenn es darum geht, neue Begegnungsräume zwischen Einheimischen und Zugewanderten zu schaffen, sind regelmäßige Lauftreffs längst ebenso populär wie die obligatorischen Fußballspiele.

Marke mit Symbolkraft

Was hat es nun aber mit dieser magischen Zwei-Stunden-Marke auf sich, an der neuerlich gerüttelt werden soll? Jede Sportart kennt einen derartigen Referenzpunkt, eine Marke mit Symbolkraft, die es zu erreichen oder überwinden gilt. Für Veranstalter wie Sponsoren ist so etwas ein enormer Glücksfall, denn wenn der sportliche Erflog in Wahrheit doch allein in der Verbesserung gegenüber der bisherigen Bestleistung besteht, wird dennoch alles von dieser einen Marke überstrahlt.

David Krems, "Fast ein Wunder". € 24,- / 320 Seiten. Picus-Verlag 2019
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Wer würde sich schon für einen Event begeistern, bei dem es darum ginge, die Marathondistanz statt in zwei Stunden und neun Minuten, in zwei Stunden und sieben Minuten zu bewältigen? Auch der Sprinter Carl Lewis verdankt seine Bekanntheit letztlich dem Unterschreiten der 10-Sekunden-Marke und nicht der Verbesserung um eine Zahl auf der Kommastelle.

Wenn man sich nun verdeutlicht, dass die Marathonbestzeit (unter regulären Wettkampfbedingungen) in den letzten hundert Jahren um mehr als eine halbe Stunde verbessert werden konnte, und aktuell bei nur 01:39 über den angestrebten zwei Stunden liegt, scheint es so, als ob das Vorhaben – zumal unter derartigen "Laborbedingungen" – früher oder später gelingen dürfte.

Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der Rekordzeiten ergibt jedoch ein differenzierteres Bild. Die stete Verbesserung lässt sich nämlich nicht beliebig fortschreiben. So konnte die Bestzeit über die letzten zwanzig Jahre hinweg lediglich um etwas mehr als vier Minuten gedrückt werden. Irgendwann scheint eine Marke erreicht, die sich Kraft der physischen Grenzen, die dem menschlichen Körper nun einmal gesetzt sind, ganz einfach nicht mehr unterschreiten lässt. Wenn sich in den nächsten Tagen auf der Prater Hauptallee also die weltbesten Laufathleten treffen, geht es dabei vielleicht nicht mehr lediglich um die Verbesserung irgendeines Rekords, sondern bereits um die Grenzen des menschlich möglichen.

Deshalb sei abschließend noch einmal an die Geschichte erinnert, die dem Marathonlauf zugrunde liegt: Der Legende nach ist der eilige Bote nach dem Verkünden seiner Nachricht nämlich zusammengebrochen und an Erschöpfung gestorben. Ein Detail, das man bei allem Enthusiasmus wohl stets in Erinnerung behalten sollte. (David Krems, 11.10.2019)