Zu viel Zucker, zu viele Transfette, zu viel Salz: Industriell gefertigte Nahrungsmittel verändern das Mikrobiom im Darm – dadurch ist der gesamte Körper beeinträchtigt.

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Es gibt eine Box der Pandora in der Medizin. Und die liegt im Bauch. "Darmerkrankungen nehmen stark zu", sagt der Internist Markus Peck-Radosavljevic, Internist und Chefgastroenterologe am Klinikum in Klagenfurt. Durch sein Engagement im Rahmen der Europäischen Gesellschaft für Gastroenterologen (UEG) weiß er, dass seine Kollegen dasselbe beobachten.

Gleichzeitig steigt die Anzahl der fettleibigen Menschen. Wie die jüngste OECD-Untersuchung zeigt, ist in 34 der 36 Mitgliedsstaaten mehr als jeder Zweite übergewichtig, fast jeder Vierte adipös. Zwischen 2010 und 2016 ist der Anteil der fettleibigen Erwachsenen von 21 auf 24 Prozent gestiegen – ein Zuwachs von 50 Millionen.

Auf den Magen schlagen

Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts sind vielfältig. Neben krankhaftem Übergewicht leiden immer mehr Menschen an chronischen Verdauungsstörungen, Fettleber und Entzündungen im Darm, auch Unverträglichkeiten und Allergien nehmen zu, und Darmkrebs wird immer häufiger.

Patienten und Patientinnen, die zu Peck in die Klinik kommen, sind stets stark beeinträchtigt. Sie haben Bauchschmerzen, leiden an Übelkeit oder Dauerdurchfällen, sind müde. Wenn ein Darmkrebs zu spät entdeckt wird, besteht sogar Lebensgefahr.

Es hat ein paar Jahrzehnte gedauert, aber Ärzte wie Peck sind sich sicher, dass die Ursache im Mikrobiom zu finden ist. Jeder Mensch hat rund 100 Trillionen Mikroorganismen im Darm, die für das Wohlbefinden eine entscheidende Rolle spielen. Die Zusammensetzung der Darmbakterien ist schwer zu untersuchen: Viele Bakterien zerfallen beim Kontakt mit Sauerstoff, zudem scheint es, dass die bakterielle Grundausstattung von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Genau diese Vielfalt macht das Mikrobiom zu einer Box der Pandora.

Haltbarkeit ein Schlüssel

Allerdings verdichten sich die Hinweise, dass die industriell erzeugten Nahrungsmittel mit ihren langen Haltbarkeitszeiten eine Schlüsselrolle für viele Darmerkrankungen sein könnten. Und weil in der menschlichen Nahrungskette der Supermarkt fast zum Alleinversorger geworden ist und insofern bestimmend dafür, was gegessen wird, werden Darmerkrankungen maßgeblich vom dortigen Angebot bestimmt.

Was den wenigsten bewusst ist: Was in Supermärkten verkauft wird, muss lange haltbar sein, und das wird durch den Zusatz von Zucker, Salz, Konservierungsmittel und Geschmacksverstärkern erreicht. Glukose in Fertiggerichten fördert nachweislich das Entstehen der nichtalkoholischen Fettleber. "Die Krankenzahlen explodieren in den USA, Australien und Großbritannien", berichtet Peck, also dort, wo der Grad der Industrialisierung im Lebensmittelbereich am weitesten fortgeschritten ist.

Gesund sind naturbelassene Nahrungsmittel, hauptsächlich Pflanzen und nur wenig Fleisch", bringt es Ronit Endevelt vom israelischen Gesundheitsministerium im Rahmen des European Health Forums Gastein auf den Punkt. Sie weiß auch, wie sehr Transfette, Zucker und Salz die Geschmacksrezeptoren der Konsumenten verändert haben und wie lange eine Entwöhnung von diesen Hochdosen an Zucker braucht. Auch Israel hat ein Adipositas-Problem. Ab 2020 werden dort gesunde und ungesunde Lebensmittel im Supermarkt gekennzeichnet sein.

Falsche Botschaften

Doch Übergewicht, Darmerkrankungen und in der Folge auch Diabetes können nicht durch eine einzige Maßnahme eingedämmt werden. Nur eine Fülle von Aktionen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft könne die Epidemie (die in zehn Jahren die Gesundheitsbudgets sämtlicher Nationen sprengen wird) aufhalten. Ein McKinsey-Report listet 75 Einzelmaßnahmen auf. Für Endevelt liegt ein Schlüssel vor allem in der Bildung.

"Es reicht nicht, dass Kinder lernen, was Fett und Kohlenhydrate sind, es geht auch darum, die falschen Marketingbotschaften der Lebensmittelkonzerne zu durchschauen", sagt sie. Gegen die hochemotionalen, gezielt falschen Werbebotschaften in der Lebensmittelwerbung hätten rationale Argumente keine Chance, weiß sie. Im Schulunterricht zu gesunder Ernährung müsse es also von Anfang an um einen kritischen Blick auf die Nahrungsmittelindustrie gehen. Die Big Player in der Nahrungsmittelindustrie arbeiteten global, so die Public-Health-Experten in Gastein, und überall mit ähnlichen Strategien.

Schwächt das Land

Die wachsende Zahl der Kranken werten sie als Zeichen eines Systemversagens – und nicht als die Folge von individuellen Fehlentscheidungen. Adipositas werde sich in Zukunft auch auf das Bruttoinlandsprodukt auswirken, die OECD errechnet für Österreich ein Minus von 2,5 Prozent bis 2050.

Wie gegensteuern? Auf echten Märkten einkaufen, viel frisches Gemüse essen und wieder selbst kochen. Die gute Nachricht zur Box der Pandora: Das Mikrobiom ist dynamisch, Bakterien flexibel. Das gibt dem Darm die Chance, sich selbst zu regenerieren. (Karin Pollack, 14.10.2019)