Frauen im neuen Flüchtlingslager von Korinth am griechischen Festland protestieren gegen die dortigen Lebensbedingungen.

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Wien /Ankara/Athen – EU-Ratspräsident Donald Tusk hat mit scharfen Worten auf die Drohung des türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan reagiert, bei europäischer Kritik an der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien die Grenzen für syrische Flüchtlinge zur EU zu öffnen. Erdogan versuche, die Union "zu erpressen" und mache Flüchtlinge zu Waffen, sagte Tusk am Freitag bei einem Besuch in Zypern.

Erdogan hatte am Donnerstag von "3,6 Millionen Menschen" gesprochen, für die er im Fall von Kritik die Türen zur EU öffnen werde.

Vertrag seit 2016

Der türkische Machthaber werde seine Drohungen wohl nicht wahrmachen, meint dazu Gerald Knaus im Gespräch mit dem STANDARD: "Das Abkommen dürfte halten." Knaus ist Mitinitiator und -aushandler des Abkommens der Türkei mit der EU von 2016. In diesem Deal hat sich die Türkei gegen Zahlung von sechs Milliarden Euro über mehrere Jahre verpflichtet, Migranten im Land zu halten, statt ihnen das Übersetzen auf griechische Inseln und damit in die Union zu ermöglichen – sowie abgewiesene Asylwerber aus Griechenland wieder zurückzunehmen.

Erdogan habe nicht zum ersten Mal mit Grenzöffnung gedroht, sagt Knaus. Das Abkommen habe trotz etlicher diplomatischer Konflikte bisher gehalten.

Gerald Knaus entwarf und verhandelte der EU-Türkei-Deal mit. Nun ortet er "Versagen der EU in Griechenland".
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Wenige Syrer wollen weiter

Auch seien derzeit nur wenige syrische Flüchtlinge an einer Weiterreise in die EU interessiert.: "In Booten in Richtung griechische Inseln stellen sie nur ein Fünftel der Insassen." Viele Syrer arbeiten in der Türkei, mehr als 1,6 Millionen erhalten EU-finanzierte Sozialhilfe.

Zwar, sagt Knaus, seien in den kommenden Monaten mehr Flüchtlingsankünfte in Westeuropa zu erwarten als zuletzt. Dies jedoch keineswegs in einem Ausmaß wie 2015. Grund sei das "Versagen der EU in Griechenland". Nach wie vor gebe es aus anderen EU-Staaten keine effiziente Hilfe für die griechischen Asylbehörden.

Balkanroute nicht zu

Diese mussten schon zuletzt tausende Flüchtlinge aus humanitären Gründen von den Inseln aufs Festland überstellen: "Von dort aus reisen sie weiter. Wirklich geschlossen ist die Balkanroute nicht", sagt Knaus.

Derzeit habe die türkische Offensive in Nordsyrien Fluchtbewegungen nicht in Richtung Türkei, sondern in den Süden Syriens zufolge, sagt der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger im STANDARD-Gespräch: "Alteingesessene Kurden sowie Christen fliehen vor den türkischen Kräften". Laut lokalen Quellen seien bereits 100.000 Menschen unterwegs. (Irene Brickner, 11.10.2019)