Deutschland trauert: In Halle wurden Blumen und Steine niedergelegt. Die jüdische Gemeinde in Halle dankt für Nachrichten, die ihr zeigen, dass Juden "ein Teil dieser Gesellschaft sein dürfen".

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Einen Tag nach dem Terroranschlag auf die Synagoge im sachsen-anhaltischen Halle hat der Tatverdächtige Stephan B. die Tat gestanden. Er war am Donnerstagabend stundenlang beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe vernommen worden.

B. erklärte, er habe aus antisemitischen und rechtsextremen Motiven gehandelt. Auch in einem von ihm gestreamten Video ist zu hören, wir er auf "Juden" und "Kanaken" schimpft. Angaben zu möglichen Mitwissern oder Unterstützern soll er aber in Karlsruhe nicht gemacht haben.

Erstmals hat sich auch der Anwalt des Tatverdächtigen, Hans-Dieter Weber, geäußert. Er sagte über das Geständnis seines Mandanten im Südwestrundfunk (SWR): "Es wäre unsinnig, da etwas abzustreiten, und das hat er auch nicht getan."

Zu den Motiven erklärt Weber: "In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere, und das ist letztendlich der Auslöser für dieses Handeln – und natürlich Taten, die es in der jüngeren Vergangenheit gegeben hat."

Keine Polizeibewachung

B. war am Mittwochmittag mit einem Auto zur Synagoge in der Humboldtstraße in Halle gefahren. Er hatte vier Schusswaffen und vier Kilogramm Sprengstoff bei sich. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Synagoge, in der sich am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, viele Menschen aufhielten, zu stürmen. Doch die Sicherheitstür hielt dem Angriff stand. Polizeibewachung gab es an diesem Tag nicht, was der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Schuster, als "skandalös" bezeichnete.

Als B. mit seinem Plan scheiterte, in die Synagoge einzudringen, erschoss er direkt vor dem Gebetshaus eine zufällig vorbeikommende, 40-jährige Frau. Danach ging er weiter zu einem nahegelegenen Dönerimbiss, dort erschoss er einen 20-jährigen Mann. Auf seiner Flucht schoss er noch auf weitere Menschen, wenige Stunden nach den Taten wurde er festgenommen.

Die jüdische Gemeinde in Halle bedankt sich auf ihrer Website für die Anteilnahme, die sie aus aller Welt erhalten hat: "Die Worte, die wir in E-Mails, Whatsapp- und Facebook-Nachrichten lesen, spielen für uns eine sehr große Rolle. Zeigen sie uns doch, dass wir ein Teil dieser Gesellschaft sein dürfen und dass der Mörder vom 9. Oktober mit seiner Hass-Ideologie und bestialischen Brutalität in absoluter Minderheit bleibt."

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Donnerstag mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu telefoniert und dabei nicht nur ihre tiefe Betroffenheit zum Ausdruck gebracht, sondern auch betont, dass Deutschland fest zu seiner Verantwortung stehe, jüdisches Leben zu schützen. Auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte betont, dass Deutschland gegenüber der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg einen Schwur abgegeben habe: "Nie wieder!"

Übergriff in Österreich

Nur wenige Stunden nach dem Anschlag in Halle kam es in Wien zu einem Übergriff auf einen Mann, der nach dem Gebet in einer Synagoge in der Tempelgasse auf den Heimweg war. Wie die Polizei dem STANDARD bestätigte, schlug ein Autofahrer ihm mit der Faust ins Gesicht und prellte ihm die Nase, er soll den Mann außerdem antisemitisch beschimpft haben. Die Polizei geht dennoch vorerst nicht von einem antisemitischen Hintergrund aus. Derzeit behandle man einen "Streit zwischen Verkehrsteilnehmern, wie er in Wien jeden zweiten Tag passiert", so eine Sprecherin. Allerdings könne die Einvernahme weitere Details zum Hintergrund offenlegen.

Oskar Deutsch, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), geht hingegen von antisemitischen Motiven aus. Er fordert die lückenlose Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung des Angriffs: "Der Kampf gegen Antisemitismus und die Sicherheit unserer Institutionen und Mitglieder muss die absolute Priorität aller Regierungsmitglieder und Ministerien sein." Laut IKG würden solche Vorfälle mehrmals im Jahr passieren.

49 antisemitische Taten 2018

Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte im letzten Jahr 49 antisemitisch motivierte Tathandlungen, die angezeigt wurden. NGOs berichten von deutlich mehr Vorfällen, so wurden etwa dem Forum gegen Antisemitismus im Jahr 2017 503 Vorfälle gemeldet, mehr als 350 davon waren antisemitische Briefe, Anrufe oder Taten im Internet. Ein Grund für diese Diskrepanz ist, dass nicht jede Handlung, die NGOs gemeldet wird, auch strafrechtlich relevant ist. Ein zweiter Grund für Unterschiede in den Statistiken sind Hürden: "Tathandlungen werden oftmals von Betroffenen und Opfern nicht zur Anzeige gebracht", schreibt das Innenministerium auf Anfrage – dies gelte aber nicht nur für antisemitische Taten.

Eine weitere Hürde könne fehlendes Vertrauen in die Polizei sein, sagt Bernhard Weidinger vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Offizielle Zahlen seien außerdem kritisch zu betrachten, weil es eine Dunkelziffer an antisemitischen oder rassistischen Taten gebe, die Beamte nicht als solche aufnehmen würden, sagt Weidinger: "Da wird das Motiv nicht als solches erkannt und zum Beispiel schlicht als Raufhandel aufgenommen." (Birgit Baumann, Gabriele Scherndl, 11.10.2019)