Zehntausende Menschen fliehen aus der umkämpften Region im Norden Syriens.

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Türkische Soldaten vor der Grenzstadt Ras al-Ain. Laut eigenen Angaben hat die Armee die Stadt bereits eingenommen.

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Ankara –Hunderte von Anhängern des radikal-islamischen IS sind nach Angaben von kurdischen Behörden wegen der türkischen Militäroffensive aus einem Gefangenenlager im Norden Syriens geflohen. Nachdem türkische Streitkräfte das Lager Ain Issa beschossen hätten, seien rund 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und ausgebrochen, teilten die lokalen kurdischen Behörden mit.

Ein Anführer des kurdisch-geführten Rebellenbündnisses SDF, gegen das sich die türkische Offensive richtet, sagte, es gebe schlicht nicht genug Wachpersonal, nachdem Kämpfer an die Front beordert worden seien. Weitere Sicherheitskräfte seien nach dem Beschuss durch das türkische Militär weggelaufen. In Ain Issa, das in der Nähe der ebenfalls umkämpften Stadt Tel Abjad liegt, gebe es nur noch 60 bis 70 Sicherheitskräfte, im Vergleich zu normalerweise rund 700. Insgesamt leben in dem Lager 12.000 Menschen, darunter auch Familien von IS-Kämpfern.

Die türkische Armee und ihre syrischen Verbündeten haben am Sonntag nach Angaben von Aktivisten die Grenzstadt Tall Abyad von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten erobert. Es sei die größte Stadt, die sie seit Beginn der Offensive am Mittwoch eingenommen hätten, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Auch die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete die Einnahme des Stadtzentrums.

Trump fordert von Türkei Überwachung

Die USA haben ihre Sanktionsdrohungen gegen die Türkei bekräftigt und vor der Flucht der IS-Kämpfer gewarnt. "Ich habe der Türkei klargemacht, dass wir sehr schnelle, starke und harte Wirtschaftssanktionen verhängen, wenn sie ihre Verpflichtungen nicht einhalten", sagte Präsident Donald Trump am Samstagabend vor Anhängern in Washington.

Zu diesen Verpflichtungen gehöre der "Schutz religiöser Minderheiten und auch die Überwachung von IS-Häftlingen, die wir gefangen haben". Den kurdischen Kämpfern riet er dazu, sich aus dem umkämpften Grenzgebiet zur Türkei zurückzuziehen.

Es sei sehr schwierig, eine Streitmacht zu schlagen, die – anders als die eigenen Einheiten – über eine Luftwaffe verfüge, sagte Trump. Deshalb hoffe er, dass sich die in Nordsyrien agierenden Kurdenmilizen von der Grenze zur Türkei entfernen. Zum Abzug der US-Truppen aus dem Konfliktgebiet sagte Trump: "Ich glaube nicht, dass unsere Soldaten für die nächsten 50 Jahre dort sein und die Grenze zwischen der Türkei und Syrien bewachen sollten, wenn wir unsere eigenen Grenzen zu Hause nicht bewachen können." Damit bezog sich der Republikaner auf die zahlreichen illegalen Grenzübertritte an der Südgrenze der Vereinigten Staaten zu Mexiko.

"Invasion eines arabischen Staates"

Im Streit über den Einmarsch der Türkei in Syrien wächst indessen international der Druck auf Ankara: Der Generalsekretär der Arabischen Liga sprach am Samstag von einer "Invasion eines arabischen Staates und eine Aggression gegen seine Souveränität". Auch Russlands Präsident Vladimir Putin sagte, dass Syrien von einer ausländischen Militärpräsenz befreit werden müsste. Zudem kündigten Deutschland und Frankreich an, keine neuen Rüstungsexporte an die Türkei zu genehmigen, und die USA drohten dem NATO-Partner Türkei mit Strafmaßnahmen. Derweil setzten die türkischen Truppen ihren Vormarsch gegen die Kurdenmiliz YPG fort.

Die türkischen Truppen und ihre syrischen Verbündeten waren laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Samstagmorgen aus drei Richtungen auf die nordsyrische Grenzstadt Ras al-Ain vorgerückt. Der Kampf um die Stadt dauere an, betonte ein Vertreter der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Er widersprach damit Angaben Ankaras, wonach die strategisch wichtige Grenzstadt "unter Kontrolle" der türkischen Armee sei. Auch ein AFP-Korrespondent und die Beobachtungsstelle berichteten am Samstag, dass die türkische Armee zwar in Ras al-Ain einmarschiert sei, die Gefechte aber andauerten.

Im meist flachen Abschnitt zwischen Ras al-Ayn und Tal Abyad hat die Phase eins der Offensive in Nordsyrien begonnen: Türkische Luftschläge, auch an anderen Stellen entlang der Grenze, und Artilleriefeuer begleiten den Einmarsch der Truppen – meist von Ankara unterstützte Rebellenmilizen. Ortschaften werden umstellt.
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Die Beobachtungsstelle teilte überdies mit, an der Seite der Türkei kämpfende syrische Rebellen hätten bei Gefechten in der Grenzstadt Tall Abyad mindestens neun Zivilisten "hingerichtet". Nach kurdischen Angaben soll unter den Opfern die Kurdenpolitikerin Hervin Khalaf sein. Videos, die die Hinrichtung der Vorsitzenden der säkularen Zukunft-Syrien-Partei zeigen sollen, wurden am Samstagnachmittag häufig auf Twitter geteilt. Ein Rebellensprecher leugnete den Vorwurf – die Kämpfer seien noch gar nicht bis zum mutmaßlichen Tatort vorgedrungen.

Autobomben gezündet

Seit dem Beginn der Offensive wurden nach Angaben der Syrischen Demokratischen Kräfte mehr als 70 kurdische Kämpfer getötet. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte spricht zudem von rund 40 toten Zivilisten. Die Angaben der in London ansässigen Beobachtungsstelle sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen. Aber auch der Korrespondent des "Guardian", Martin Chulov, der aus dem Norden Syriens berichtet, zeichnete am Freitag ein düsteres Bild. Hubschrauber und Geier seien über Leichen kurdischer Kämpfer auf den Feldern vor der Stadt Ras al-Ain gekreist. Immer wieder seien Sirenen der Einsatzfahrzeuge ertönt, die zur Hilfe verletzter Kämpfer eilten, aber auch so manchen Zivilisten versorgen mussten – oft vergeblich. Viele andere Bewohner der Stadt hätten trotz der Gefechte die Flucht in einen Nachbarort gewagt. Aber auch andernorts seien die Kurden attackiert worden. Die Dschihadistenmiliz Islamische Staat (IS) zündete am Freitag in benachbarten Kurdenstädten zwei tödliche Autobomben.

Auf türkischer Seite wurden nach Angaben Ankaras 18 Zivilisten getötet. Bei den Kämpfen in Nordsyrien seien außerdem vier Soldaten getötet worden. Nach UN-Angaben flohen bereits mehr als 100.000 Menschen vor den Kämpfen.

Spannungen zwischen Westen und Ankara

Die Türkei hatte am Mittwoch nach einem Rückzug von US-Soldaten aus dem syrischen Grenzgebiet ihre lange angedrohte Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG begonnen. Die USA und andere westliche Staaten hatten den türkischen Militäreinsatz von Beginn an heftig kritisiert, da sie in der YPG den wichtigsten Partner im Kampf gegen den IS sehen. Sie fürchten ein Wiedererstarken der IS-Miliz.

Für zusätzliche Spannungen zwischen Washington und Ankara sorgte ein Zwischenfall nahe der syrischen Grenzstadt Kobane. Die USA warfen der Türkei vor, dort am Freitagabend US-Soldaten unter Beschuss genommen zu haben. Das Pentagon forderte die Türkei auf, alles zu vermeiden, was zu "sofortigen Verteidigungsaktionen" führen könne. Ankara wies die Anschuldigungen zurück. Die Türkei erhalte derzeit "von rechts und links Drohungen", sagte Erdogan am Freitagabend bei einer Ansprache in Istanbul. "Aber wir werden nicht stoppen. Wir werden keinen Schritt mehr zurückgehen."

Um gegen die Militäroffensive zu protestieren, gingen am Samstag in zahlreichen europäischen Städten tausende Menschen auf die Straße, darunter auch in Wien. Zudem haben mehrere europäische Staaten, darunter Deutschland und Frankreich, aus Protest angekündigt, ihre Waffenexporte in die Türkei auszusetzen. Österreich liefert seit 2016 kein Kriegsmaterial an die Türkei. (red, APA, Reuters, 13.10.2019)