Bild nicht mehr verfügbar.

Von türkischen Streitkräften beschossene Ziele in der syrischen Gemeinde Ceylanpinar nahe der Grenze zur Türkei.

Foto: AP Photo/Emrah Gurel

Zur türkischen Offensive in Nordsyrien lässt sich fünf Tage nach Beginn eine erste Bilanz ziehen, und sie ist so einfach wie verheerend: Alles, was zu befürchten war, auch das Schlimmste, trifft ein.

Das Leiden der Zivilbevölkerung, der nur die Wahl zwischen türkischer Bombardierung sowie den Angriffen der syrischen Söldnertruppen Ankaras oder der Flucht bleibt; die Kriegsverbrechen, die an kurdischen Gefangenen verübt werden; die Korrosion der Gefängnisse und Lager, in denen Terroristen des "Islamischen Staats" beziehungsweise deren Angehörige festgehalten werden: Die Büchse der Pandora hat sich geöffnet, und niemand weiß, wie sie sich wieder schließen lässt.

Auch der maximale Druck auf die Türkei würde erst einmal gar nichts bewirken. Selbst wenn sie die Offensive stoppt, würde es zu spät sein. Die Folgen dessen, was soeben in Nordsyrien passiert, lassen sich noch gar nicht abschätzen. Auch die USA werden ihr eigenes totales Versagen nicht so ohne Weiteres abschütteln können.

Die Türkei weiß genau, was sie tut

Die Berichte von Erschießungen durch die von der Türkei rekrutierten syrischen Rebellengruppen machen besonders wütend. Es ist richtig, dass so etwas im Bürgerkriegsland Syrien seit Jahren geschieht. Aber dass ein Nato-Staat sich bei einer Militäroperation, deren angebliche Legitimität er mit der Uno-Charta und Sicherheitsratsresolutionen untermauert, paramilitärischer Verbrecherbanden bedient, ist eine Schande für Ankara und für die ganze Nato. Die Türkei weiß genau, was sie tut, wenn sie diese Milizen loslässt. Syrische "Rebellen"? Schon längst nicht mehr.

Als nicht ernst gemeint oder als grobe Selbstüberschätzung erweisen sich auch die türkischen Behauptungen, man werde den Anti-IS-Kampf, der von Washington in die Hände Ankaras gelegt worden sei, weiterführen. Auch die USA, deren Präsident Donald Trump durch seine Chaospolitik alles ausgelöst hat, sehen das anders: Sonst hätten sie nicht selbst mit der Verlegung besonders gefährlicher IS-Verbrecher begonnen.

Abgesehen davon, wie viele von ihnen aus den Gefängnissen und den Lagern entkommen werden, bedeutet der Wegfall der von den kurdischen YPG-Milizen geführten "Syrischen Demokratischen Kräfte" für den IS neue Luft zum Atmen. Die SDF haben ihn bekämpft und in Schach gehalten.

Drecksarbeit für die ganze Welt

Sie wurden von den USA dazu aufgestellt, man kann auch sagen, dafür benützt. Man muss die syrisch-kurdischen PYD/YPG nicht idealisieren, es bleibt dennoch festzuhalten: Sie haben in Nordostsyrien mit dem Kampf gegen den IS die Drecksarbeit für die ganze Welt erledigt. Und nebenher noch versucht, eine moderne Verwaltung in dem Gebiet aufzubauen. Das haben sie nicht verdient.

Ja, auch die Last, die die Menschen in der Türkei seit Jahren an den Flüchtlingen aus Syrien tragen, wird zu wenig gewürdigt. Von der türkischen Regierung werden sie jedoch als Verschubmasse gesehen – wenn sie droht, Kritiker aus der EU zu bestrafen, indem sie ihnen die Flüchtlinge "schickt", aber noch mehr, wenn sie ankündigt, die Flüchtlinge dorthin bringen zu wollen, wo nun Kurden vertrieben werden. Denn wenn die Türkei dort ihre Statthalter – die syrischen Milizen wollen belohnt sein – einsetzt, werden die Kurden nicht zurückkehren können. Heute nennt man das "demographic engineering", früher Deportationspolitik. Unter den Augen eines hilflosen Europa. (Gudrun Harrer, 13.10.2019)