Selbstvermarktung per Autostopp: Claudia Kainberger (re.) und Marie Noel in "Rule of Thumb".

Foto: Bettina Frenzel

Zwei Frauen sind "on the road". Der hochgestreckte Daumen muss genügen, um sie per Autostopp in Bewegung zu halten. Vorbei sind jedoch die Zeiten, in denen man sich mit Rucksack und ohne große Pläne im Kopf einfach der mobilen Freiheit überantwortet hat. In ihrem Stück Rule of Thumb – was im Englischen auch "Faustregel" bedeutet – verknüpft die aus Belgrad stammende Gegenwartsdramatikerin Iva Brdar Reisen mit einer Idee von Selbstvermarktung. Ana und Monika wollen nach Strezimirovci, ein zufällig ausgewähltes Dorf zwischen Serbien und Bulgarien, mithin ein Außenposten der EU.

Sie haben ein paar zweckdienliche Praktikumserfahrungen (Kaffeekochen!) in der schönen neuen Arbeitswelt getankt, jetzt wollen sie endlich in die Gewinnerstraße einbiegen. "Wir sind eine Gewinner-Kombi", lautet folgerichtig ihr Slogan – das "Wir" wird in ihren lyrisch druckvollen Reden bevorzugt, selbst wenn nur eine der beiden spricht. Hier wird auch ein Stück Lebensgefühl gepitcht.

Rollschuhlauf

Nina Kusturica lässt die beiden Anhalterinnen (Claudia Kainberger und Marie Noel) in ihrer Inszenierung im Wiener Kosmos-Theater in Rollschuhen vorfahren. Vor einer Wellblechwand, die auch als Kinoleinwand dient – Kusturica hat bisher vor allem als Filmregisseurin gearbeitet –, drehen sie ihre Kreise, adressieren zwischendurch auch mal das Publikum im suggestiven Flüstermodus, einem Youtube-Star gleich. Das verleiht dem Abend von Beginn an eine performative Note, die variantenreich und gewitzt, nur in hektischen Momenten bisweilen um eine Tonlage zu weit hochgedreht erscheint.

Hindernisse voraus!

Der Europatrip des Frauenduos orientiert sich weniger am Roadmovie, das immer auch das Versprechen eines Neubeginns erzählt. Brdar geht es mehr um die Hindernisse, um die auch ins Absurde reichende Konfrontation mit Menschen (und sogar Tieren) am Wegesrand, die ihrerseits mehr mit eigenen Problemen beschäftigt sind. Mobil bleiben in diesem Europa eines sich überall ähnlich abstrampelnden Prekariats nur die, die sich besser verkaufen. Deshalb wird aus einer Szene gleich eine Schulung in Sachen Bewerbungsgespräch. Ein "specialist for specialized systems" muss schließlich wissen, wie er seine Expertise anbringt. Immer wieder blitzt in Rule of Thumb dieser entlarvende Blick auf rezente Arbeitswelten auf.

Vielgestaltig

Kusturicas Regie setzt auf Prägnanz durch Reduktion der Mittel, bleibt zugleich aber vielgestaltig. Rana Farahani sitzt als Erzählerin mit auf der Bühne und sorgt mit Musikeinlagen wie einer melancholisch dahinschlurfenden Interpretation von Supertramps The Logical Song für Stimmungswechsel.

Die Choreografie bedient sich nur weniger Requisiten wie einer Tonne oder eine Art Gummimatte, um mit den Darstellern ein dynamisches Spiel zu entfachen, in dem dann nicht nur Rollenbilder ironisch in Bewegung geraten. Thomas Kolle bildet das dritte Glied in der beweglichen Darstellerkette. Ganz ohne Anstrengung gelingt es ihm, die größte Palette an Figuren zu spielen: von einem Polizisten über einen Hund bis zum Autofahrer, der sich seinen Daumen abgetrennt hat. Männliche Autorität wird dabei oft verschmitzt unterlaufen, etwa beim Tanz, wo er geführt wird.

Dass der Trip der Tramperinnen zunehmend ins Leere verläuft, verdeutlicht Kusturica bildhaft durch die Verengung der Perspektiven. Das Finale kommt als Film aus dem Inneren eines Autos. Es hat dann schon die Anmutung eines Horrorfilms, der wie Edgar G. Ulmers berühmtes B-Roadmovie Detour heißen können. (Dominik Kamalzadeh, 14.10.19)