Ist das Ludwig Wittgensteins norwegisches Boot? Die Künstlerin Marianne Heske bejaht die Frage mit einem Augenzwinkern.

Foto: Marianne Heske

Auf der Buchmesse stellt Heske den Holzkahn als Readymade aus.

Foto: Marianne Heske

Irgendwann in diesen zwei langen norwegischen Mitsommernachtsnächten fällt ein Satz, der ein Schlüssel zu Marianne Heskes Werk sein könnte: "Ich sage nicht, dass es Kunst ist, ich bewege die Gedanken." Zu diesem Zeitpunkt hatte die Handvoll Besucher, die Anfang Juli nach Skjolden gereist kam, in einen winzigen Ort am Ende von Norwegens längstem und tiefstem Fjord, Sognefjord, bereits ein halbverbranntes Ruderboot am Ufer des Fjords begutachtet, sie hatte die Hütte des Philosophen Ludwig Wittgenstein besichtigt und von dessen einsamen und dunklen Tagen hier, am Ende der Welt, erfahren. Die Frage, die sich aber jeder stellte, war: Und was ist jetzt das Kunstwerk?

Ja, was? Die norwegische Künstlerin Marianne Heske ist bekannt dafür, dass sich ihre Werke nicht sofort erschließen. Vor rund 40 Jahren entdeckte sie in den Bergen der Fjordlandschaft eine jahrhundertealte Holzhütte, das Dach pittoresk mit Gras und Moos bewachsen. Mit einem alten Citroën-Van brachte sie die nach Ziegen riechende Hütte in das tausende Kilometer entfernte Pariser Centre Pompidou, wo die Museumswächter jeden Tag das Dach gossen, damit das Gras auch unter künstlichem Licht munter weiterwachsen konnte. Die Besucher ritzten Erinnerungen in das alte Holz, und nach einem Jahr transportierte Heske die Hütte wieder zurück nach Norwegen und übergab sie ihrem früheren Besitzer.

Zwanzig Jahre später war es ein 17 Tonnen schwerer Findling, dessen Ecken und Kanten durch die tausende Jahre währende Gletscherschmelze abgeschliffen worden waren, den sie zum Filmfestival nach Venedig transportieren ließ. Es war das Jahr, als Tom Cruise und Nicole Kidman anlässlich von Eyes Wide Shut über den roten Teppich spazierten, und noch heute ist Marianne Heske davon überzeugt, dass Cruise für einen Moment irritiert war, als er den riesigen Stein aus dem norwegischen Fjord hier mitten am Lido sah. Bis heute liegt der Findling vor dem Hotel des Bains und verwundert die Vorbeischlendernden. Oder wie Marianne Heske sagen würde: "Er spielt mit unseren Gedanken."

Bedeutungsjongleurin

Die 1946 in einem Nachbarfjord geborene Heske ist so etwas wie die Bedeutungsjongleurin unter den Konzeptkünstlern. Bekannt wurde sie mit videomanipulierten Landschaften. Sie arbeitete mit Nam June Paik und traf Joseph Beuys mehrere Male in seinem Atelier in Düsseldorf und brachte ihm getrockneten Fisch. Es sind immer Materialien oder Artefakte, die bedeutungsschwer und traditionsreich sind, mit denen sich Heske auseinandersetzt. 2016 ließ sie noch einmal eine Hütte abtragen und an einem anderen Ort wieder aufstellen.

Diesmal war es ein typisches 150 Jahre altes norwegisches Holzhaus, das sie für drei Monate vor dem Parlament in Oslo platzierte. 700 Leute stellten sich am Tag an, um durch die einfachen Räume zu schlendern, obwohl wahrscheinlich jeder ihrer Vorfahren einmal in so einer Hütte gewohnt hatte. Im erdölreichen Norwegen ist die Erinnerung daran aber dabei, zu verblassen.

Einsamkeit am Ende des Sees

Ähnlich verhält es sich auch mit dem weit im Norden gelegenen Refugium des Ludwig Wittgenstein, den es in den Jahren nach 1913 immer wieder in das einsame, ganze 200 Kilometer vom Meer entfernte Skjolden zog. Er bezog eine am steilen Hang über einem türkis-blauen See gelegene Holzhütte, und wann immer er etwas brauchte – das war nicht all zu oft -, bestieg der Autor des Tractatus sein Boot und ruderte ans andere Ende des Sees. In Skjolden, schrieb er einmal, "brennen meine Gedanken".

Wo das Holzboot heute ist, weiß auch Heske nicht. Eines weiß sie aber mit Sicherheit: Der Kahn, den sie vor dem Feuer rettete und den sie mitten unter den tausenden Bücherständen auf der Frankfurter Buchmesse platzieren wird, sieht jenem von Wittgenstein zum Verwechseln ähnlich. Wittgensteins Boot nennt sie die Installation und freut sich schon darauf, wie die Besucher in Frankfurt danach die Köpfe verdrehen werden. Vielleicht macht sich der eine oder andere ja auch so seine Gedanken. Heske würde es freuen. (Stephan Hilpold aus Skjolden, 16.10.2019)