Der Politologe und Statistiker Laurenz Ennser-Jedenastik weist in seinem Gastkommentar auf das Primat der Inhalte bei Koalitionsverhandlungen hin.

Welche Parteien werden nach der Wahl im September eine Koaltion bilden?
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Die Ausgangsbasis: Die Sitze im Nationalrat und die Koalitionsmöglichkeiten.
Grafik: Der Standard

Selten ist einer Koalitionsvariante unmittelbar nach einer Wahl so viel Wohlwollen auf den Kommentarseiten entgegengebracht worden, wie jüngst der Option Türkis-Grün. Was immer man auch von einer Zusammenarbeit zwischen Volkspartei und Grünen halten mag, viele positive Stimmen dazu basieren auf einem falschen Verständnis davon, wie Koalitionen funktionieren.

Die Fehleinschätzung liegt dabei in der Annahme, Koalitionen würden nach dem Prinzip des "Logrolling" funktionieren. Logrolling bezeichnet in der Politikwissenschaft eine Art Tauschhandel zwischen politischen Akteuren: Wenn etwa Partei A Maßnahme X umsetzen will und Partei B Maßnahme Y, dann ist beiden geholfen, indem sie wechselseitige Zustimmung vereinbaren. Ein simpler Abtausch – ich helfe dir bei deinen Anliegen, du mir bei meinen – nutzt beiden Parteien.

Ein Tauschhandel ...

Die türkis-grüne Spielart dieser Überlegung geht in etwa so: Die ÖVP habe zwar ein passables wirtschafts- und sozialpolitisches Programm, könne aber grüne Nachhilfe in den Bereichen Umwelt, Gesellschaftspolitik und Transparenz brauchen. Beide Parteien mögen sich demnach doch bitte auf ihre jeweiligen Kernbereiche konzentrieren, und – voilà – schon wäre ein tadelloser Kompromiss greifbar.

Konsequent zu Ende gedacht müssten sich bei einer Logrolling-Koalition Türkis und Grün nur auf eine Ressortverteilung einigen. Jede Partei bekommt bestimmte Ministerien überantwortet und gestaltet in diesen Bereichen nach Gutdünken. Heraus kommt dabei eine wirtschaftsliberale Politik im sozioökonomischen Bereich versetzt mit gesellschaftspolitisch liberalen Elementen plus starker Umweltkomponente und Transparenzoffensive.

... und viele Widerspüche

Per se ist diese Überlegung nicht völlig absurd. Logrolling kann in der Praxis eine effiziente Form der Kompromissfindung zwischen Verhandlungsparteien sein. Bloß widerspricht diese Theorie vielem, was die Koalitionsforschung in den vergangenen Jahrzehnten an empirischen Erkenntnissen gewonnen hat:

· Erstens: Gegen die Logrolling-Annahme spricht, dass Koalitionsabkommen in Österreich heutzutage in der Regel umfassende Übereinkünfte in allen wesentlichen Politikbereichen vorsehen. So eine umfassende Kompromissfindung wäre nach der Logik des simplen Abtausches völlig unnötig. Und tatsächlich beschränkten sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ÖVP und SPÖ oft darauf, nur allgemeine Spielregeln, Konfliktlösungsmechanismen und die Ressortverteilung festzulegen. Dementsprechend knapp fielen Koalitionsabkommen oft aus. Mittlerweile sind daraus aber umfangreiche Dokumente geworden, die zum überwiegenden Teil inhaltliche Kompromisse abhandeln. Das türkis-blaue Regierungsabkommen 2017 war sogar das umfangreichste seit 1945.

Platz für Widersprüche

· Zweitens: Wie die Koalitionsforscherinnen Heike Klüver (Humboldt-Universität Berlin) und Hanna Bäck (Universität Lund) jüngst gezeigt haben, widmen Parteien jenen Bereichen in Koalitionsabkommen mehr Platz, in denen die inhaltlichen Differenzen größer sind. Das spricht klar dafür, dass diese Abkommen tatsächlich der inhaltlichen Kompromissfindung dienen und nicht einfach dem wechselseitigen Abtausch von Einzelmaßnahmen.

· Drittens: Aus den Arbeiten von Katrin Praprotnik (Donau-Universität Krems) wissen wir, dass in Österreich Wahlversprechen zwar mit höherer Wahrscheinlichkeit umgesetzt werden, wenn die betreffende Partei in einer Koalition das dafür verantwortliche Ministerium zugesprochen bekommt. Allerdings ist dieser Effekt nicht sehr groß. Von einer Koalitionswelt, in der die Minister in ihrem Bereich unbehelligt durch den Koalitionspartner schalten und walten könnten, ist die politische Praxis also weit entfernt.

Inhaltliche Präferenzen

· Viertens: Gegen die Logrolling-Theorie spricht auch, dass die Ressortverteilung für gewöhnlich am Ende der Koalitionsverhandlungen erledigt wird – also erst nachdem die inhaltliche Kompromissfindung abgeschlossen ist. Natürlich gibt es für jede Partei Schlüsselressorts. Kaum jemand würde in einer türkis-grünen Regierung etwa eine grüne Wirtschaftsministerin und einen schwarzen Umweltminister erwarten. Diese Präferenzen sind natürlich vor Verhandlungsbeginn bekannt, sie nehmen aber keineswegs die inhaltliche Ausrichtung der einzelnen Politikbereiche vorweg.

· Fünftens: Kein Politikbereich ist von anderen isolierbar. Eine ganzheitliche Umweltpolitik etwa umfasst notwendigerweise Maßnahmen in der Steuer-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik. Genauso hat eine umfassende Integrationspolitik bildungs-, sozial- und rechtspolitische Dimensionen. Kompromisse müssen über Politikfelder hinweg errungen werden – ein simpler Abtausch von Gefälligkeiten kann das nicht leisten.

Quer durch alle Bereiche

All diese Argumente zeigen eines: Koalitionen sind kein simples Tauschgeschäft. Sie erfordern mühsame Kompromisse quer durch alle Politikbereiche. Darin liegt auch die größte Hürde für Türkis-Grün: nicht dass die Differenzen der beiden Parteien in einigen wenigen Bereichen völlig unüberbrückbar wären, sondern dass ihre Positionen fast überall weit auseinander liegen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 15.10.2019)