"Ausgewachsenes Wildschwein auf Kinderspielplatz in Wien-Donaustadt erlegt": So titelten die Medien im Mai 2017. Das ist kein alltägliches Szenario, aber ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr Tier- und Menschengebiete zum Teil zusammenwachsen.

Insbesondere das Wildschwein gerät in der Diskussion über außer Kontrolle geratene Populationen immer wieder ins Kreuzfeuer. Walter Arnold, Leiter des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien, wundert das nicht: "Die Wildschweine sind Nutznießer des Klimawandels. Sie haben sehr viele Nachkommen. Die milden Winter reduzieren die Sterblichkeitsrate massiv."

Die Jagdstreckenstatistik aus Niederösterreich zeigt, in welchem Ausmaß: Zwischen 1870 und 1950 wurden im Schnitt 300 Wildschweine pro Jahr erlegt. Heute sind es 20.000 bis 30.000 Tiere im selben Gebiet. Und das ist immer noch nicht genug, sagt Arnold.

Die Wildschweine sind Nutznießer des Klimawandels.
Foto: Lukas Friesenbichler; Set-Design: Magda Rawicka

Wildschweine sind sehr intelligent und lassen sich dementsprechend schwer erwischen. Nahrung in der Kulturlandschaft, sprich in Mais- und Weizenfeldern, ist zudem leichter zu beschaffen als im Wald, und diese ist Stadtgebieten näher als unbewohnte Wälder.

Ergo steht ein Wildschwein auch schon einmal auf der Donauinsel herum oder nähert sich Siedlungen am Stadtrand. Arnold: "Sie überqueren sogar die Donau und vermehren sich dann mit ihren Verwandten im Wienerwald."

Das Wildschwein auf dem Spielplatz hat trotzdem Seltenheitswert. Denn in der Regel treffen Wildschwein und Mensch im Stadtgebiet nicht aufeinander. Für das Ökosystem aber ist die wachsende Population ein veritables Problem. Und dann gibt es da noch die Afrikanische Schweinepest, gibt Arnold zu bedenken. Eine Krankheit, die in Osteuropa bereits um sich greift. Für den Menschen ist sie ungefährlich, für das Schwein tödlich.

Gerät diese Krankheit in ein Gebiet mit Wildschweinvorkommen, lautet die Vorgabe: den Bestand um 70 Prozent reduzieren, damit sich keine Hausschweine infizieren. Denn das hieße, den gesamten Bestand töten zu müssen. Bisher ist das Virus nicht nach Österreich gelangt. Sorge bereitet die drohende Seuche der Jägerschaft natürlich trotzdem.

Denken wie Obelix

Dabei ist das Wildschwein kulinarisch betrachtet ein echter Schatz – und die Verfügbarkeit von Wildschweinfleisch insofern ein Gewinn für die Welt des guten Essens. Denn es ist hochwertiges, gesundes Fleisch mit intensivem Geschmack und von einem Tier, das bis zu seinem Tod glücklich in Wald und Hain umhergestreift ist.

Jäger bringen ihre Abschüsse, so weit es geht, in Eigenregie an den Mann und die Frau. "Hilfestellungen beim Vermarkten wären trotzdem sehr wichtig", sagt Arnold. Denn mengenmäßig ist es kein Problem, Wildschwein auch im Supermarkt anzubieten. Es gibt genügend Tiere.

Die 30.000 Abschüsse machen sich für die Jäger im Bestand bis heute nicht bemerkbar. Auch wenn der Vertrieb natürlich insofern schwerer planbar ist, als man Menge und Lieferzeitpunkt nicht genau bestimmen kann. Trotzdem: ein Lösungsansatz, der zumindest in Gegenwart von Semmelknödeln und Rotkraut attraktiv erscheint.

Vom Schwein zum Krebs

Ähnlich verliefen auch die Gedankengänge von Juliane Bublitz und Lukas Bosch, als sie 2018 bei einem Gläschen Wein von der Sumpfkrebsplage im Berliner Stadtgebiet lasen. In seiner Heimat Louisiana ist der Krebs eine Delikatesse, in Berlin trifft man ihn mitunter im Tierpark – wohlgemerkt auf den Grünflächen, die sich außerhalb des Zoos befinden.

Lukas Bosch, Juliane Bublitz und Andreas Michelus (v. l.n.r.) verkochen den amerikanischen Sumpfkrebs, der in Berlin die heimischen Arten verdrängt.
Foto: Bastimowka

Und er verdrängt heimische Arten, die unter Schutz stehen. Schon bevor die auf das Weinglas folgende Party zu Ende war, stand für die beiden fest: Sie gründen ein Unternehmen, das Plagen zu Delikatessen werden lässt. Auf dieser Party war nämlich auch ein alter Freund von Lukas Bosch, ein Sternekoch.

Dieser meinte, dass gerade Leute aus der gehobenen Gastronomie auf der Suche nach solchen Zutaten seien, nach Produkten, die hochwertig, exotisch und trotzdem regional sind. Der Foodtruck war schnell gekauft, darauf "Holycrab!" gepinselt und dem Berliner Fischer mit Fanglizenz der Louisiana-Sumpfkrebs abgekauft.

Heute tüftelt neben Bublitz und Bosch mit Andreas Michelus ein ausgebildeter Koch an der kulinarischen Verwendung von Plagen. Vom Amerikanischen Sumpfkrebs gibt es am Stand mitunter die "Berlin Crab Roll" – Holycrab, also Sumpfkrebs, in Sauerteigbrioche mit hausgemachter Dillmayonnaise und Zwiebelsalat – oder die "Hauptstadt Bouillabaisse", eine Krebsbisque mit Safran.

Inzwischen haben sie das kulinarische Angebot um weitere essbare Plagen erweitert und schließen auch einen Geschäftszweig als Plagenlieferant nicht aus. Bosch: "Das Konzept lässt viel mehr zu, als wir gerade machen."

Die Berlin Crab Roll von Holy Crab.
Foto: Nino Halm/Holycrab

So haben sie zwar einem interessierten Gastronomen aus Bayern die Lieferung von Berliner Stadtkrebsen verweigert – "das geht dann auch wieder vorbei am Gedanken der Regionalität" -, eine Kooperation ist trotzdem in Aussicht. "Wir arbeiten gerade an so vielen Fronten mit tollen Leuten zusammen.

Vielleicht können wir bald europaweit auf Plagensuche gehen und so vor Ort Konzepte entwickeln." Im Fall des Bayern also dort invasive Arten und Plagen orten und zur Delikatesse verkochen. Ob mittels Pop-up-Küche oder in Seminarform, das ist alles noch am Köcheln.

Auch an einem neuen Namen wird getüftelt. Der Name Holycrab passt nun einmal nur bedingt zu "Wildschweinbratwürsten" oder "Nutria Taco mit Kürbis und Feta". Letzteren bieten Holycrab im Rahmen der Berlin Food Week in einem "Invasiven Menü" aus "Hooligans: Nilgans, Kartoffel und grüne Sauce" oder "Not Weed: Praline gefüllt aus Japanischem Knöterich" an. Der Japanische Knöterich ist eine invasive Pflanzenart – warum auch vor Gewächsen haltmachen?

Der Nutria, auch Sumpfbiber genannt, ist auch in Österreich als invasive Art deklariert. Ebenso wie der Sikahirsch, eine ostasiatische Hirschart, die in den Donauauen zu finden ist, oder der Mufflon, der die Salzburger Lande durchstreift. Allesamt sind sie von Umweltschützern ungern gesehen, der Plagitarier auf dem Esstisch sieht das nicht so eng. (Nina Wessely, RONDO, 18.10.2019)