Polizeibeamte betraten den Bauernhof, auf dem bis vor kurzem offenbar ein Österreicher und sechs weitere Personen lebten.

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De Kastelein, "zum Schankwirt", heißt die gemütliche Dorfbar gleich rechts beim Ortseingang von Ruinerwold, einer 4.000-Einwohner-Gemeinde im Osten der Niederlande. Es war schon gegen elf Uhr abends am Sonntag, als der seltsame junge Mann erneut auftauchte, mit heruntergekommenen, altmodisch anmutenden Kleidern. Wirt Chris Westerbeek erkannte ihn sofort wieder. "Er sagte, er heiße Jan." Am Abend zuvor habe er ihn wegschicken müssen. "Es war schon nach Mitternacht, wir wollten schließen."

Nun trank der Fremde schnell fünf Bier, sie kamen ins Gespräch. "Das Geld hab' ich dem Papa gestohlen", habe er beim Bezahlen erzählt. Und dass der Papa krank sei, dass er noch Geschwister habe und sich nur nachts, im Dunkeln, wegzulaufen traue.

"Ich brauche Hilfe"

Zunächst wechselte der Wirt mit den anderen Gästen nur erstaunte Blicke. Dann jedoch verständigte er die Polizei. Denn nach den vielen Bieren habe sich der junge Mann wohl ein Herz gefasst und gesagt: "Ich bin geflohen. Ich brauche Hilfe." Als er ins Polizeiauto stieg, hörte Westerbeek ihn noch sagen: "In eurer Welt existiere ich nicht, ich stehe nicht in euren Computern."

Was die Polizei daraufhin in einem Bauernhof entdeckte, sorgt inzwischen in aller Welt für Schlagzeilen: Versteckt hinter einem Wohnzimmerschrank wurde eine Treppe entdeckt, die zu "mehreren provisorisch eingerichteten Räumen" führte, so Bürgermeister Roger de Groot.

Dort soll ein Vater mit seinen fünf Kindern neun Jahre lang verborgen und isoliert gelebt haben. Ihr wichtigster Kontakt zur Außenwelt: Josef B., Tischler, 58 Jahre alt und – wie das Außenministerium inzwischen bestätigt hat – Österreicher. Laut STANDARD-Infos ist B. in Oberösterreich geboren und hat vor seiner Auswanderung in einer Gemeinde im Bezirk Perg gelebt. Dem Bürgermeister zufolge war B. unauffällig. Kontakt zu österreichischen Behörden wünsche er keinen, so das Außenamt.

Entführungsverdacht

Welche Rolle B. spielte, ob er die Familie festgehalten hat oder ob sie sich freiwillig versteckt hat – das alles ist noch nicht gänzlich geklärt. Am Mittwochnachmittag gaben die Behörden in den Niederlanden aber bekannt, B. der Freiheitsberaubung zu verdächtigen. Am Donnerstag soll er dem Haftrichter vorgeführt werden.

Jan, der älteste Sohn, soll in sozialen Netzwerken aktiv sein. Dort schrieb er, dass die Mutter bereits 2004 gestorben sei. Ob die Profile auf Facebook und Instagram authentisch sind, war noch unklar. Ebenfalls noch geklärt werden muss, wieso die Behörden nicht aktiv geworden sind, als die Kinder nicht in der Schule erschienen. Denn, so verriet der Bürgermeister: Der Vater hatte sich und seine Kinder bei der Gemeinde angemeldet. Spekulationen, es gehe um Sektenmitglieder, die auf das Ende der Welt warteten, wurden bislang nicht bestätigt.

Fest steht, dass die Polizei am Montag hinter dem Wohnzimmerschrank auf die Geschwister des jungen Mannes traf, die zwischen 18 und 25 Jahre alt sind, auf ihren Vater, der seit einem Schlaganfall krank im Bett gelegen sein soll, sowie auf "Jozef, de Oostenrijker".

Lob von Kunden und Kollegen

Der Handwerker wird von Kunden und Kollegen als Fachmann gelobt und führt in der nächstgrößeren Stadt Meppel einen eigenen Holzhandel.

Josef B. ist auch der Mieter des Bauernhofs, der abgelegen an einem Kanal liegt, rund 100 Meter von der Straße und vom nächsten Haus entfernt, erreichbar nur über eine kleine Brücke und umgeben von hohen Bäumen und Hecken. Dahinter befindet sich ein Gemüsegarten. Davon und von den Tieren auf dem Hof hat sich die Familie möglicherweise ernährt.

Nachbarn, Spaziergängern und Anglern zufolge traf B. fast täglich mit seinem Volvo auf dem Bauernhof ein. Er galt als einziger Bewohner und brachte immer einen Anhänger voll Baumaterial mit. "Wir dachten, er renoviert den Hof", sagte Nachbarin Trijnie de Boer, 61, dem Reformatorisch Dagblad. Gesprochen habe sie ihn nie: "Er schloss immer alles sofort hinter sich ab."

Nach dem Einzug 2010 hätten die Nachbarn ihm als Willkommensgruß Blumen und Wein gebracht. "Aber er wollte keinen Kontakt." Die Vermieterin, Alida Rooze, die Frau eines prominenten Lokalpolitikers, ist fassungslos: "Wir haben den Hof an nur eine Person vermietet. Wir haben keine Ahnung, wer diese Kinder und ihr Vater sind!"

Dutroux und Kampusch

Im ganzen Dorf sind Schock und Erstaunen groß, kaum jemand will glauben, dass sechs Menschen neun Jahre lang unbemerkt und versteckt auf einem Hof leben konnten: "Ich hätte nie gedacht, dass so etwas bei uns in den Niederlanden möglich ist", so ein Dorfbewohner. Er habe sofort an den Fall Dutroux in Belgien denken müssen. "Und an die Österreicherin, die acht Jahre lang gefangen gehalten wurde." Er meint Natascha Kampusch.

Der Vater und seine Kinder wurden inzwischen von Ärzten untersucht und an einen unbekannten Ort gebracht. Sie bräuchten jetzt vor allem eines, so der Bürgermeister: "Ruhe." (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 16.10.2019)