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Froh sind nicht alle über den kommenden Brexit – aber derzeit scheint es dennoch so, als würde er näherrücken.

Foto: Reuters / Yves Herman

Frage: Wie stehen die Chancen, dass es bereits beim EU-Gipfel eine Brexit-Einigung gibt, auf deren Basis Großbritannien am 31. Oktober geordnet austritt?

Antwort: Das ist die Frage aller Fragen. 24 Stunden vor dem Eintreffen der 28 Staats- und Regierungschefs wagte am Mittwoch in Brüssel niemand vorherzusagen, ob der Deal klappt. EU-Chefverhandler Michel Barnier blieb bei seiner Einschätzung, dass es "möglich" sei. Expertengespräche liefen praktisch rund um die Uhr weiter. Der Kommission lieferte Barnier intern ein eher positives Lagebild, ebenso den Botschaftern der EU-Staaten.

Frage: Wer verhandelt da überhaupt, und wer entscheidet was wann?

Antwort: Es gibt zwei Ebenen. Die sachlichen Gespräche werden von Barnier für die Kommission mit Vertretern der britischen Regierung geführt. Darüber steht die politische Ebene der Regierungen, die der Kommission "die großen Linien" vorgeben. Am Ende fällt die definitive Entscheidung über einen Austrittsvertrag im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Der Vertrag muss dann sowohl im Unterhaus, dem britischen Parlament, wie auch im EU-Parlament in Straßburg mit Mehrheit angenommen – ratifiziert – werden. Die Kommission müsste den Brexit dann umsetzen.

Frage: Wie soll das gehen, wo doch die "alte" EU-Kommission von Jean-Claude Juncker am 1. November von der neuen unter Präsidentin Ursula von der Leyen abgelöst werden soll?

Antwort: Eine interessante Frage, die beim EU-Gipfel beantwortet werden dürfte. Weil drei Kandidatinnen und Kandidaten für Kommissarsämter bei den Anhörungen im EU-Parlament durchgefallen sind, wird sich der Amtsantritt von der Leyens verzögern. Das Juncker-Team muss dann weitermachen, voraussichtlich bis 1. Dezember. Wie sehr alles im Fluss ist, zeigt der Umstand, dass Ratspräsident Donald Tusk 24 Stunden vor Gipfelbeginn am Donnerstag, 15 Uhr noch keine Tagesordnung ausgeschickt hatte.

Frage: Was geschieht, wenn es im Vorfeld keine ausreichende Annäherung gibt, auch die EU-Regierungschefs sich mit dem britischen Premier Boris Johnson nicht einigen können?

Antwort: Auch dann wäre nicht aller Tage Abend. Mehrere EU-Botschafter ließen wissen, dass es einen weiteren EU-Sondergipfel geben wird, vermutlich am 29. Oktober, zwei Tage vor dem (bisher) vorgesehenen EU-Austritt. Dabei würde verhandelt werden, ob die EU-27 den Austrittstermin neuerlich verschieben (wie das Unterhaus für den Fall eines No Deal per Gesetz beschlossen hat); fände man dazu keinen einstimmigen Beschluss, müsste der Brexit ohne Deal "chaotisch" ablaufen. Eine Verlängerung müsste vom britischen Premier beantragt – und genau begründet – werden.

Frage: Und was ist, wenn es beim Gipfel zu einer Einigung kommt, der auch die strittige Frage des Backstop, der Garantie offener Grenzen auf der irischen Insel, einschließt?

Antwort: Das wäre im Vergleich zu dem, was sich seit November 2018 zwischen London und Brüssel abgespielt hat, ein großer Fortschritt, bedeutet aber nicht, dass ein geordneter Brexit automatisch kommt. Man erinnere sich: Auch die Vorgängerin von Boris Johnson, Theresa May, hatte einen fix fertigen Austrittsvertrag samt politischer Erklärung zu den künftigen Beziehungen zwischen EU und UK ins Unterhaus gebracht. Die Abgeordneten lehnten ihn aber drei Mal ab. Das kann auch diesmal passieren, hängt ganz von der innenpolitischen Lage ab. Das EU-Parlament dürfte zustimmen.

Frage: Worum genau wird eigentlich noch gestritten, gibt es offene Punkte außer der Frage, wie man mit den offenen Grenzen in Irland umgeht?

Antwort: Im Prinzip nein. Und das ist gleichzeitig das Verblüffende an dem Kräftemessen zwischen London und den EU-27. Auch Johnson hat – wie zuvor May – bereits zugestanden, dass seine Regierung eine Übergangszeit nach dem Brexit bis Ende 2020 akzeptiert und weiter EU-Beiträge bezahlt. EU-Bürger auf der Insel behielten ihre Rechte.

Frage: Was wäre eine Lösung?

Antwort: Alles dreht sich derzeit um die Frage, wie Nordirland in einer Übergangszeit (bis zum Aushandeln eines Freihandelsabkommens mit der EU) sowohl in der Zollunion mit der EU wie auch im Binnenmarkt verbleiben könnte, obwohl es Teil des souveränen Drittlandes Großbritannien ist. Das ist das, was die deutsche Kanzlerin Angela Merkel immer wieder als "die Quadratur des Kreises" bezeichnet hat. Bei einem EU-Austritt wird das Vereinigte Königreich zum Drittland, das frei ist, seine Beziehungen zum Rest der Welt zu gestalten. Es müsste also Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitgliedsland Republik Irland geben. Das verbietet aber das Karfreitags-Friedensabkommen von 1998, in dem offene Grenzen in Irland festgeschrieben sind, um den Friedensprozess voranzutreiben.

Frage: Wie kann man das Irland-Dilemma auflösen?

Antwort: Nur durch viel Vertrauen und eine provisorische Lösung. Da die EU-27 offene Grenzen als unabdingbar ansehen, hat Johnson ein Zugeständnis angedeutet (das May 2018 brüsk abgelehnt hatte): Nordirland könnte formell dem britischen Zollraum angehören, durch eine Sonderregelung de facto aber in der EU-Zollunion bleiben. Warenkontrollen würden nicht in Irland, sondern "in der Irischen See" auf dem Weg nach Nordirland erfolgen. Wie man das im Detail regelt und abwickelt und sich wechselseitig Kontrollrechte zugesteht, wird von Experten sehr detailreich zu klären sein – ebenso die Regeln für fairen Wettbewerb. (Thomas Mayer aus Brüssel, 16.10.2019)