EU-Verhandler Michel Barnier sieht "gute Fortschritte".

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In der ebenso hektischen wie hoffnungsvollen Brexit-Endzeitstimmung wiederholten sich am Mittwoch in London und Brüssel Vorgänge aus den vergangenen beiden Jahren. Wie damals seine Vorgängerin Theresa May verbrachte auch der amtierende Premier Boris Johnson viel Zeit mit den Abgesandten der nordirischen Unionistenpartei DUP. Deren Zustimmung zu einer Vereinbarung mit Brüssel, so scheint es, hängt von der Zahlung einer erheblichen Milliardensumme ab. In Brüssel gab am Mittwochabend dann Chefunterhändler Michel Barnier seine Einschätzung vor dem EU-Gipfel ab.

Er berichtete von positiven Gesprächen und "guten Fortschritten". Allerdings spieße es sich noch in einigen Fragen: Darunter jene, welches Mehrwertsteuersystem künftig in Nordirland herrschen solle – und die, ob die DUP einem Abkommen auch wirklich zustimmen würde. Nachdem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am frühen Abend davon gesprochen hatte, dass ein neuer Vertrag so gut wie fertig sei, verlautete später laut BBC aus britischen Kreisen, dass es wohl erst am Donnerstag einen möglichen Durchbruch geben werde.

Alle Beteiligten stehen unter großem Zeitdruck, weil der britische EU-Austritt zum Monatsende erfolgen soll. Allerdings sprechen immer mehr Experten davon, das Datum werde auch dann nicht einzuhalten sein, wenn es in Brüssel zur Einigung kommt. Das liegt daran, dass im Unterhaus eine Reihe technischer Gesetze verabschiedet werden müssten, um die Rechtssicherheit auf beiden Seiten des Ärmelkanals zu gewährleisten. Premier Johnson aber hat das Land auf den 31. Oktober eingeschworen. Eine kurzzeitige Verlängerung um höchstens drei Monate "könnte er vielleicht gerade noch als technische Verlängerung verkaufen", glaubt Professor Tim Bale von der Londoner Queen-Mary-Universität.

Kein Durchbruch

Zuvor aber muss die Einigung mit Brüssel gelingen. Inzwischen beschränkten sich versierte Experten in London auf Mutmaßungen. Allem Anschein nach werde der erste Teil des Austrittsabkommens weitgehend unversehrt bleiben, glaubt Professorin Catherine Barnard von der Uni Cambridge. Darin geht es um britische Zahlungen in die Gemeinschaftskasse; der vor Jahresfrist gehandelte Betrag von netto 39 Milliarden Euro dürfte durch die seither geleisteten "normalen" Mitgliedsbeiträge geschrumpft sein.

Als wenig kontrovers gelten auch die Regelungen zur Übergangsphase bis Ende 2020 sowie zur rechtlichen Situation der mehr als 3,5 Millionen EU-Bürger, die auf der Insel leben. Höchstens die Passagen, die in Konfliktfällen noch für mehrere Jahre dem Europäischen Gerichtshof bestimmte Kompetenzen einräumen, könnten unter eingeschworenen Brexiteers erneut für Aufregung sorgen.

Deren Zustimmung dürfte aber weitgehend davon abhängen, wie das neue Abkommen die zukünftige Stellung Nordirlands regelt. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die britische Provinz zwar de jure mit dem Rest des Königreichs aus der EU-Zollunion austritt, de facto aber in einem Zollverein mit der Republik im Süden und damit auch der EU verbleibt.

Blick auf die Parlamente

Die beteiligten Regierungschefs gaben sich optimistisch. Nach einem zehnminütigen Telefonat mit Johnson sprach Irlands Premierminister Leo Varadkar davon, ein Deal sei noch am Mittwoch machbar. Die Vereinbarung könne dann vom Europäischen Rat ratifiziert werden, um den Weg für Abstimmungen im EU-Parlament und im britischen Unterhaus freizumachen. Allerdings ließ Varadkar die Möglichkeit offen, dass es wegen der Komplexität der Thematik einen weiteren Brexit-Gipfel in diesem Monat geben werde.

In London konzentriert sich die Debatte auf das Abstimmungsverhalten im Unterhaus. Zwar ist das Überleben von Johnsons Minderheitsregierung nicht mehr von den zehn DUP-Abgeordneten im Unterhaus abhängig, weil er auch 21 Liberalkonservative aus der eigenen Fraktion geworfen hat. Die Einschätzung der nordirischen Unionisten beeinflusst aber die Haltung der Brexit-Hardliner in der Tory-Fraktion. Viele dort dürften Johnson folgen, sobald dieser die DUP an Bord gebracht hat. Helfen könnte dabei die Drohung, man werde mit den Brexit-Ultras verfahren wie mit den Liberalkonservativen: Wer nicht spurt, fliegt aus der Fraktion und darf bei der kommenden Wahl nicht mehr als Konservativer antreten. (Sebastian Borger aus London, red, 16.10.2019)