Beim EU-Gipfel (im Bild: Viktor Orbán, Boris Johnson, Leo Varadkar, Angela Merkel, v. li.) schien die Stimmung am Donnerstag ausgelassen.

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So entspannt wie Donnerstagnachmittag hat man die 28 Staats- und Regierungschefs der Union zum Start eines EU-Gipfels lange nicht mehr gesehen: "Freuen wir uns doch einfach darüber, wenn es so positiv beginnt", flötete Xavier Bettel aus Luxemburg in die Mikrofone. Es gehe nicht mehr darum, "ob es einen Brexit gibt oder nicht", sondern ob der für 31. Oktober angesetzte EU-Austritt des Vereinigten Königreichs "mit einem Deal oder ohne Deal" stattfindet.

Praktisch bedeutete das die Antwort darauf, ob die Trennung geordnet mit einer Übergangszeit abläuft oder es in zwei Wochen zu einem harten Schnitt mit allen negativen Folgen für Wirtschaft und Bürger kommt. Das gefürchtete Crash-Szenario sei zwar noch nicht ganz vom Tisch, erklärte Bettel; aber da die Verhandler der britischen Regierung und der EU-27 nur wenige Stunden zuvor eine Einigung erzielt hätten, müsse man jetzt vor allem "die Chancen sehen".

Große Ablehnung

Der Binnenmarkt werde gewahrt, die Grenzen in Nordirland bleiben offen, "jetzt kommt es auf Westminster an", auf das britische Parlament, das am Samstag über den modifizierten EU-Austrittsvertrag abstimmen wird. Um seinen "großartigen neuen Deal" verabschieden zu können, muss Premier Boris Johnson allerdings viele Skeptiker umstimmen. Sowohl die Oppositionsparteien wie auch die nordirische Unionistenpartei DUP kündigten ihre Ablehnung an.

Die Arithmetik im Londoner Unterhaus spricht also nicht unbedingt dafür, dass Johnsons Plan aufgeht. Die Unionisten begründeten ihre Ablehnung mit einer "Gefahr für die Integrität der Union" – ein Argument, das auch aufseiten des harten rechten Flügels von Johnsons Tories widerhallen dürfte.

Streitpunkt Verlängerung

Johnson müsse für eine Mehrheit im Unterhaus sorgen, gab Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Protokoll. Stellvertretend für seine Kollegen wollte er damit sagen: Wir haben unsere Arbeit erfüllt.

Der Franzose ist am stärksten gegen jede weitere Verlängerung der Fristen, gegen einen Aufschub der Scheidung von EU und dem Vereinigten Königreich, wovon in den vorbereiteten Schlusserklärungen des Gipfels auch keine Rede mehr war. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnte eine Verschiebung ab. Ratspräsident Donald Tusk antwortete auf die Frage, ob die EU eine Verschiebung ablehnen werde, wenn das Unterhaus nicht zustimme allerdings: Er müsse dann zunächst mit den Mitgliedsstaaten beraten. Er schloss eine Verlängerung also nicht kategorisch aus.

Punktlandung vor dem Gipfel

Dass der Kompromiss in allen Details fast punktgenau zum Gipfelbeginn zustande kam, war neben Johnson wohl vor allem einem Mann aufseiten der EU-27 zu verdanken, Chefverhandler Michel Barnier. Der Franzose hatte bereits Anfang der Woche angekündigt, dass er den Staats- und Regierungschefs eine sachlich und juristisch fertige Lösung für alle strittigen Fragen zum Austrittsabkommen vorlegen werde. Nach einem Gesprächsmarathon über Nacht war es nach der Klärung letzter strittiger Details zur Verrechnung von Mehrwertsteuereinnahmen in Nordirland Donnerstag kurz vor Mittag so weit.

"Wo ein Wille ist, da ist ein Deal", verbreitete Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als Erster offiziell die Nachricht via Twitter. Nur Sekunden später freute sich Johnson in London über einen "großartigen neuen Brexit". Er stieg sofort ins Flugzeug, um dann in einer Presseerklärung mit Juncker seinen "besonderen Dank für die vernünftige und faire Lösung" zu deponieren.

Johnson betonte, dass Großbritannien bei einer Annahme des Deals im Unterhaus sofort frei sei, Handelsdeals mit dem Rest der Welt abzuschließen. Er versprach Juncker aber auch, dass sein Land mit den EU-27 als "solide europäische Freunde und Unterstützer eine neue Partnerschaft aufbauen werden". Juncker betonte, dass auch das Europäische Parlament dem Deal erst zustimmen müsse, voraussichtlich nächste Woche in Straßburg. Die Staats- und Regierungschefs billigten das Abkommen bei EU-Gipfel noch am Donnerstagabend einstimmig.

Mehr als 95 Prozent May

Wie ein Verhandler dem STANDARD sagte, entspricht die vorliegende Fassung des Austrittsvertrags "zu mehr als 95 Prozent" der Vereinbarung, die Johnsons Vorgängerin Theresa May im November 2018 fixiert hatte. Verändert wurden in der Substanz nur jene Teile, die sich auf die irische Insel, konkret auf Nordirland beziehen, wenn Großbritannien zum Drittland wird. Das heißt: Mit dem Austrittsdatum 31. Oktober, Mitternacht, tritt zunächst eine Übergangsfrist bis Ende 2020 in Kraft, in der die bestehenden EU-Regeln in Großbritannien weiterhin gelten werden.

Laut Barnier gibt es "volle Rechtssicherheit". So können EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich leben, und Briten, die in einem anderen EU-Land leben (insgesamt 4,5 Millionen Menschen), ihren Status wahren – sozialrechtlich, arbeitsrechtlich oder die Pensionen betreffend. London zahlt weiterhin seine Beiträge ins EU-Budget ein, seit Anfang 2019 gerechnet werden das 39 Milliarden Euro sein. Alle gemeinsamen EU-Programme laufen weiter, was im Forschungsbereich wichtig ist.

Ganz neu gestaltet werden soll der "Backstop", die Garantie für offene Grenzen in Irland. Die EU-27 hatten bisher ultimativ darauf bestanden, um das Karfreitags-Friedensabkommen zu erfüllen. Auch wenn ein Freihandelsabkommen in Zukunft scheiterte, sollte es keine Grenzkontrollen in Irland geben.

Diese Position haben die EU-27 aufgegeben. Der Backstop wurde abgelöst von der Formel, dass es nach der Übergangsperiode bis Ende 2020 vier Jahre lang offene Grenzen geben muss. Dann könnte das nordirische Parlament entscheiden, ob die Regelung um vier weitere Jahre verlängert wird, Grenzkontrollen nötig werden, die aber nicht vor 2026 kommen dürften. Im Gegenzug hat London eine Sonderregelung für Nordirland bei Zollregelungen und Binnenmarktregeln akzeptiert.

"Zwitterrolle" für Nordirland

Nordirland soll formell zwar Teil des britischen Zollregimes sein; aber Nordirland hätte auch eine "Zwitterrolle", weil es (bei offenen Grenzen zur Republik Irland) Zollregeln der EU-27 anwenden müsste, sofern Waren aus dem Königreich in EU-Staaten weitergeliefert werden. So soll unfairer Wettbewerb verhindert werden. Ausnahmen gibt es nur, wenn solche Güter in Nordirland bleiben oder dem persönlichen Bedarf dienen.

Daneben müsste in Nordirland auch eine gewisse Zahl an EU-Binnenmarktregeln zur Anwendung kommen, sprich Produkt- und Hygienestandards – insbesondere bei Tier- und Lebensmittelkontrollen. Die Kontrollen werden britischen Behörden überlassen. Das Königreich kassiert auch die fälligen Mehrwertsteuern bei Waren ein – so wie bisher als EU-Mitglied.

Wie die sehr komplexen Regeln in der Praxis funktionieren sollen, ist offen. Im EU-Parlament befürchtet man, dass sich Schlupflöcher auftun. Geklärt ist, dass die Kontrollen nicht auf irischem Territorium erfolgen, sondern beim "Eintrittspunkt", an dem man auf die Insel, also in Häfen und Flughäfen bzw. jenseits der "Irischen See", kommt. (Thomas Mayer aus Brüssel, 18.10.2019)