In Rojava, der Demokratischen Föderation der syrischen und irakischen Kurden, würden Repräsentanten der Zivilgesellschaft in diesen Tagen hektisch ihre Unterlagen verbrennen, schildert Kirstin Helberg, bis 2008 freie Syrien-Korrespondentin, im Podcast auf "Zeit Online". Die Mitarbeiter von Jugendinitiativen, Frauenzentren und Stätten politischen Dialogs, die im Kurdengebiet einigermaßen frei arbeiten konnten, fürchteten die Rückkehr der syrischen Geheimdienste und ihrer Repression. Diese werden nach der türkischen Militärintervention gemeinsam mit den Regimetruppen aus Damaskus, die die kurdische Miliz YPG nach dem Teilabzug der USA zu Hilfe gerufen hat, in der Region erwartet.

Zusammen mit zehntausenden kurdischen und christlichen Frauen und Kindern mache sich die Assad-kritische Zivilgesellschaft nun auf den Weg in Richtung Irak, während viele kurdische Männer zu Verteidigungszwecken im Grenzgebiet verbleiben würden. Zum wiederholten Mal in dem seit 2011 wütenden Syrienkrieg sind aufklärerische Kräfte und Repräsentanten gesellschaftlicher Vielfalt zur Flucht gezwungen; Kräfte und Gruppen, die für das stehen – oder deren Existenz in der Region das voraussetzte -, was man "westlichen Werte" nennt: Frauenrechte und Partizipation, Demokratie und Religionsfreiheit.

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Syrische Familien flüchten in den Irak.
Foto: REUTERS/Ari Jalal

Doch die Lage ist diesmal anders als an früheren Wendepunkten in dem jahrzehntealten Konflikt. Vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit stehen nun auch besagte Werte zur Disposition, die von Fundamentalisten jeglicher Couleur weltweit ohnehin massiven Angriffen ausgesetzt sind.

Kurzfristige politische Erwägungen

Das hat viel mit den Handlungen von US-Präsident Donald Trump zu tun. Sein Beschluss zum Abzug aus Nordysrien war ein Bruch des jahrelangen Bündnisses mit der kurdischen PYD/YPG, die als Einzige in der Region so etwas wie Demokratie wagt – und darüber hinaus entscheidend im Kampf gegen die Terrormiliz IS war. Am Donnerstag meldet der IS erneut die "Befreiung" von Anhängern aus den von den Kurden nicht mehr kontrollierten Gefangenenlagern.

Mit diesem Vorgehen, dessen Folgen nun Politiker weltweit erfolglos wieder einzudämmen versuchen, wurden nicht nur die syrischen Kurden den Expansionsbestrebungen ihres Erzfeinds Türkei ausgeliefert. Damit wurde gleichzeitig signalisiert, dass Demokratieversuche und das Hochhalten von Menschen- und Frauenrechten in der politisch wohl explosivsten Region der Erde gleichgültig sind, wenn es um kurzfristige politische Erwägungen geht.

Für die USA, die in den Augen der Welt wie kein zweiter Staat diese "westlichen Werte" symbolisiert, ist derlei ein verheerendes Signal. Eines, das auch alle anderen Gesellschaften trifft, die mit zum "Westen" gezählt werden. Ganz besonders trifft es Europa, das deshalb besonders gefordert ist, Recht und Unrecht in diesem neuen Krieg auseinanderzuhalten. Doch hier fehlt bisher die Einigkeit. (Irene Brickner, 17.10.2019)