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Damit fing es an, das Ende von Claas Relotius' Lügen im "Spiegel": Tim Foley, selbsternannter Bürgerwehrchef aus Arizona, wurde von Relotius angeblich interviewt. Später fand sein Kollege Juan Moreno heraus, dass Relotius nie mit dem Mann gesprochen hatte.

Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/JOHN MOORE

Jahrelang hat der preisgekrönte Journalist Claas Relotius beim "Spiegel" Texte gefälscht und Fakten erfunden. Die Aufdeckung durch seinen Kollegen Juan Moreno stürzte das Magazin in seine größte Krise. Nun legt Moreno ein Buch über den Fall vor, es heißt "Tausend Zeilen Lüge".

STANDARD: Warum haben Sie dieses Buch geschrieben? Gab es Rachegelüste gegenüber dem "Spiegel", der Ihnen lange nicht glaubte?

Moreno: Nein, überhaupt nicht. Ich wollte dieses Kapitel meines Lebens, das sehr bewegend war, abschließen, und ich kann nun auch sagen: Jetzt ist es gut.

STANDARD: Ein preisgekrönter Journalist hat seine Reportagen erfunden. Für den "Spiegel" war das im Jahr 2018 der Super-GAU. Wie kamen Sie Relotius auf die Schliche?

Moreno: Es gab schon 2013 einen Anfangsverdacht. Relotius war damals frisch von der Journalistenschule gekommen und beschrieb in einem Magazin, dass Schuhputzer auf Kuba – wegen der Öffnung des Landes hin zum Kapitalismus – nun einen Steuerberater brauchen. Wer schon mal auf Kuba war, der weiß: So viele Schuhputzer leben dort nicht. Es schien mir völlig unrealistisch, dass die wenigen, die es gibt, einen Steuerberater brauchen. Mir war beim Lesen unwohl, aber ich verfolgte die Geschichte nicht weiter.

STANDARD: Erst fünf Jahre später flogen die Lügen auf.

Moreno: 2018 bekam ich vom "Spiegel" den Auftrag für eine Geschichte, bei der ich mit Claas Relotius zusammenarbeiten sollte. Die Geschichte hieß "Jaegers Grenze". Ich begleitete einen Flüchtlingstreck von Lateinamerika in Richtung USA, Relotius sollte eine US-Bürgerwehr an der Grenze zu Mexiko als Reporter besuchen. Kurz, bevor die Geschichte in Druck ging, sah ich mir das Layout an. Dabei stach mir das Foto eines Mannes von der Bürgerwehr ins Auge. Es kam mir bekannt vor. Derselbe Mann war einige Jahr zuvor in einem preisgekrönten Dokumentarfilm zu sehen gewesen. Aber da hatte er einen anderen Namen. Relotius stellte ihn auch noch nebulös und pressescheu dar. Das passte nicht zusammen.

"Ich hatte starke Zweifel, und wenn man diese Zweifel im Kopf hat, dann lasen sich die Relotius-Texte plötzlich ganz anders."

STANDARD: Gab es noch mehr Zweifel?

Moreno: Am Ende des Textes beschreibt Relotius, wie einer der Männer einen Mord an einem Flüchtling begeht. Dabei lassen diese Männer deutsche Reporter zusehen? Ich hatte starke Zweifel, und wenn man diese Zweifel im Kopf hat, dann lasen sich die Relotius-Texte plötzlich ganz anders.

STANDARD: Haben Sie Relotius darauf angesprochen?

Moreno: Natürlich – und dabei habe ich eine ganz andere Seite von ihm kennengelernt. Alle beschrieben ihn ja als ausgesprochen angenehmen, höflichen und zurückhaltenden Kollegen. Mir gegenüber wurde er sehr hart und meinte, er könne nichts dafür, dass ich mit seinem Schreibstil nicht mithalten könne. Da war zu spüren, dass sich einer um Kopf und Kragen redet und lügt.

"Wer Kritik wagt, dem droht die Entlassung – falls er sich irrt": Juan Moreno über seine Relotius-Recherchen.
Foto: Rowohlt / Mirco Talier

STANDARD: Er war offenbar sehr einnehmend und konnte Zweifel gut zerstreuen.

Moreno: Im "Spiegel" erschien von ihm der hochgelobte Text über eine Amerikanerin, die durch das ganze Land reist und freiwillig Exekutionen von zum Tode Verurteilten beiwohnt. Im Nachhinein hatte ich Kontakt mit einer Leserin aus Hessen, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt und Relotius schrieb, sie halte den Text für erfunden. Die Frau zählte ihm 40 Punkte auf, die nicht stimmen konnten. Relotius bearbeitete die Frau daraufhin so lange, bis sie sich bei ihm für die Unterstellungen entschuldigte.

STANDARD: Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche gegen den Kollegen vor?

Moreno: Ich sprach mit der Dokumentationsabteilung des "Spiegel", diese prüft alle Fakten. Man glaubte mir aber nicht, weil Relotius als die Lichtgestalt des deutschen Journalismus galt. Er hatte 40 Preise gewonnen, darunter viermal den renommierten Reporter-Preis.

STANDARD: Und Ihre Vorgesetzten wollten auch nichts hören?

Moreno: Nein. Die Reaktionen waren teilweise sehr heftig, ich rechnete mit meiner Entlassung. Mir wurde vermittelt: "Das ist eine Hinrichtung, aber nicht die von Claas." Im Nachhinein sehe ich das als Armutszeugnis für den "Spiegel". Wer Kritik wagt, dem droht die Entlassung – falls er sich irrt.

"Und dann komme ich, der Sohn andalusischer Bauern, und ziehe das alles in Zweifel."

STANDARD: Sie kämpften eigentlich als David gegen Goliath.

Moreno: Manchmal hatte ich das Gefühl, verrückt zu werden. Wenn Sie beim "Spiegel" in Hamburg eintreten, dann steht in der Lobby an der Wand "Sagen, was ist". Man kann dort auch kein Volontariat machen, was bedeuten soll: Dort arbeiten nur solche, die es schon können. Und dann komme ich, der Sohn andalusischer Bauern, und zieht das alles in Zweifel.

STANDARD: Haben Sie je gedacht, ach, ich lass es lieber bleiben?

Moreno: Die Situation zu Hause war sehr schwierig. Meine Frau und ich haben vier Töchter, ich sah alles zusammenbrechen. Wenn ich mich geirrt hätte, dann hätte ich ja auch bei keinem anderen Magazin mehr einen Fuß auf den Boden bekommen. Sie müssen auch die Dynamik sehen, in die ich mit meinen Enthüllungen geplatzt bin. Mein Ressortleiter sollte Blattmacher werden, der Mann, der Relotius eingestellt hatte, in die Chefredaktion aufsteigen, und Relotius selbst sollte Ressortleiter werden. Er plante bereits, kurz bevor alles aufflog, mich dann zu entlassen. Die waren alle auf dem Weg nach oben, und ich war ein freier Mitarbeiter, den der Pförtner beim "Spiegel" in Hamburg bis zuletzt für den Taxifahrer hielt. Andererseits: Ich hing ja mit drin, da wir diese Geschichte über den Grenzzaun gemeinsam verfasst hatten.

STANDARD: Dann reisten Sie auf eigene Kosten in die USA.

Moreno: Ich machte ein Video dieser Bürgerwehr, darin erzählen die Männer, dass sie einen Claas Relotius nie gesprochen und getroffen haben. Meine Vorgesetzten beim "Spiegel" meinten daraufhin, ich hätte die Männer ja theoretisch bezahlen können. Daher sei das Video kein Beweis. Also nahm ich weitere Relotius-Texte in die Lupe und recherchierte immer mehr. Dies legte ich der Chefredaktion erneut vor. Als Relotius damit konfrontiert wurde, begann er E-Mails und Facebook-Seiten zu fälschen. Da war es dann ein Leichtes für die IT-Abteilung beim "Spiegel", die Manipulation zu erkennen. Dann brach alles zusammen.

"Das war kein Heldentum, das war Notwehr."

STANDARD: Für viele sind Sie ein Held. Fühlen Sie sich so?

Moreno: Das war kein Heldentum, das war Notwehr.

STANDARD: Hat Relotius nicht auch ein Genre – die literarische Reportage – bedient, das beim "Spiegel" ausdrücklich gewünscht war? Und kann man das heute noch so machen?

Moreno: Der Printjournalismus macht eine schwere Zeit durch, da die bloße Nachricht entwertet worden ist, weil es sie im Netz kostenlos gibt. Wenn man dann mit Knallern kommt, hilft das. Gerade beim "Spiegel" gibt es eine Sehnsucht nach einer Lösung für dieses Problem. Der Syrien-Krieg ist keine Nachricht mehr. Dann kommt einer wie Relotius und erklärt in einem fantastischen Text über zwei Flüchtlingskinder, wie dieser Krieg funktioniert, wie er riecht, wie er schmeckt und wie er sich anfühlt. Natürlich gibt es diese Monokausalität nicht wie in der Reportage über das syrische Kind, das angeblich mit einem Graffiti den Syrien-Krieg ausgelöst hatte. Aber Relotius gibt dem Leser den Eindruck, den Krieg und seine Ursachen in 15 Minuten verstanden zu haben. Er suggeriert: Die Welt ist nicht kompliziert, es gibt Schwarz oder Weiß. Ich nehme dich in meinem Text in den Arm und erkläre dir alles.

STANDARD: Ist die Reportage durch ihn in Verruf gekommen?

Moreno: Ich wehre mich gegen diesen Generalvorwurf. In einer Reportage ist sehr vieles erlaubt, aber es gibt eine klare Grenze: die Wahrheit. Eine Reportage soll auch in Zukunft packend und fesselnd geschrieben werden dürfen. Und 99,99 Prozent der Reporter machen auch einen guten Job und wichtigen Dienst. Ich sehe nicht, dass wir mit gebeugtem Kopf durch die Stadt laufen müssen. Aber aufgearbeitet ist der Fall Relotius für die Medienbranche noch lange nicht. Er hat das Urvertrauen in die Medien weiter zerstört.

"Man darf die Relotius-Affäre und Fake-News samt Lügenpresse-Debatte nicht vermischen."

STANDARD: Und das ist Wasser auf die Mühlen derer, die nur noch Fake-News sehen?

Moreno: Man darf die Relotius-Affäre und Fake-News samt Lügenpresse-Debatte nicht vermischen. Fake-News werden gestreut, um Menschen aus politischen und ökonomischen Gründen in eine gewisse Richtung zu beeinflussen. Relotius verfolgte keine politische Agenda. Er wollte allen gefallen, insbesondere gefiel ihm, dass sich die deutsche Journaille vor ihm verbeugte. Ich habe für mein Buch mit einem renommierten Psychologen über Hochstapler gesprochen. Der meinte, der Fall sei von beleidigender Schlichtheit.

STANDARD: Kann sich ein Fall Relotius in der Medienbranche wiederholen?

Moreno: Natürlich. Selbst die größte Dokumentationsabteilung beim "Spiegel" mit 80 Mitarbeitern konnte Relotius nicht entlarven, weil sie eine Institution zur Fehlersuche und keine Ermittlungsbehörde ist. Sie können Ihren Leserinnen und Lesern ja auch in einer Reportage aus Weimar erzählen und beschreiben, dass sich dort auf dem Marktplatz dutzende Neonazis aufhalten, es wird schwierig sein, das nachzuprüfen. Daher ist der Fall Relotius für die Medienbranche so gravierend. Als Journalist muss man darauf vertrauen können, dass die Konsumenten mir vertrauen. Es ist wie beim Fremdgehen. Wenn das Vertrauen in einer Beziehung zerstört ist, wird es schwierig, dieses wieder zurückzugewinnen. Das Einzige, was der "Spiegel" nun tun kann, ist, transparent aufzuzeigen, wo Fehler passiert sind, verbunden mit dem Versprechen, dass man alles tun wird, dass sich so etwas nicht wiederholt.

STANDARD: Wie geht es Ihnen heute beim "Spiegel"?

Moreno: Im Frühjahr hat man sich offiziell bei mir entschuldigt. Ich arbeite nach wie vor als freier Journalist und bin viel im Ausland unterwegs. Die Kollegen verhalten sich mir gegenüber freundlich professionell.

"Ich bin natürlich eine ständige Erinnerung an den größten GAU des Spiegel."

STANDARD: Ihr Buch wird nun auch noch von Bully Herbig verfilmt. Da wird man sich in Hamburg nicht freuen.

Moreno: Ich bin natürlich eine ständige Erinnerung an den größten GAU des "Spiegel".

STANDARD: Haben Sie Mitleid mit Relotius?

Moreno: Natürlich denke ich daran, wie es ihm wohl geht. Ich frage mich bisweilen, ob mein Buch zu hart ist. Mir tut es schon leid, dass ein junger Mann seine Zukunft in der Medienbranche verbaut hat. Andererseits hat er Glück, dass der "Spiegel" nicht juristisch gegen ihn vorgeht.

STANDARD: Wissen Sie, was er macht?

Moreno: Er hat Kollegen erzählt, er sei jetzt in einer Klinik in Süddeutschland, wo ihm geholfen werde. Am gleichen Tag allerdings wurde er auf dem Fahrrad in Hamburg gesehen. (Birgit Baumann, 19.10.2019)