Noch vor ein paar Jahren wäre man wohl etwas ratlos vor einem Buch mit dem Titel Bad Feminist gestanden. "Feministin" hat bis vor wenigen Jahren schon für ein "Bekenntnis" gereicht. Heute fühlen sich – nach dem großen Erfolg dieser Essaysammlung von Roxane Gay zu schließen – offenbar viele von der Beichte, eine "schlechte Feministin" zu sein, angesprochen. "Ich bin eine schlechte Feministin, weil ich nicht auf den Sockel gestellt werden will.

Von Menschen, die man auf einen Sockel stellt, wird erwartet, dass sie etwas darstellen, und zwar perfekt" – ein Phänomen, das auch den Feminismus erreicht hat. Wer sich jetzt eine Abrechnung mit dem zeitgenössischen Feminismus erwartet, wird aber enttäuscht werden. Gays Essays sind zwar kritisch, sie konzentriert sich aber immer darauf, was er kann.

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Die Bücher von Roxane Gay durchzieht weder eine hoffnungslose Schwere noch ein starker Fokus auf ihre Gewalterlebnisse. Gay kennt das Wohlbehütete ebenso gut wie das Trostlose. Es gibt wohl nur wenige Intellektuelle, sie bereits auf so vielen unterschiedlichen Plätzen im sozialen Raum gesessen sind.
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Feminismus hat Roxane Gay Orientierung gegeben – nicht der "ideale, heilige Feminismus", eher der "einfache", schreibt die heute 44-Jährige in Bad Feminist. Doch selbst den Prinzipien des einfachen Feminismus, der für die Gleichberechtigung der Geschlechter steht und weitere Kategorien berücksichtigt, die bestimmen, "wer wir sind und wie wir uns in der Welt bewegen", schaffe sie nicht immer zu folgen. Aber es sei schon okay, wenn man seinem besten feministischen Selbst nicht immer gerecht wird, so Gay in ihrer typischen nachsichtigen Art. Es ist mehr als okay, denn vielleicht produzierte Roxane Gay gerade deswegen die interessantesten feministischen Texte, die es aktuell zu lesen gibt.

Bad Feminist (2014) und Hunger (2017) – beide sind im Sommer erstmals auf Deutsch erschienen – hielten sich über viele Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times. Gay verflicht für ihre Texte politische und autobiografische Aspekte derart gekonnt, dass der Zusammenhang von persönlich erlebtem Rassismus, Dickenhass, Sexismus und Gewalt mit den kulturellen und institutionellen Fundamenten, die für all das eine feste Verankerung bieten, überdeutlich hervortritt.

Erschütternde Grundrauschen

Roxane Gay stammt aus einer gutsituierten, sehr bildungsorientierten haitianischen Einwandererfamilie. Sie ist dick, zeitweise war sie sehr dick, und "teilweise" queer, wie sie selbst sagt. In Gays Geschichte und ihrer Person geraten so einige Vorurteile durcheinander.

Sie wurde als Kind von ein paar Jahre älteren Buben vergewaltigt. Davon spricht sie zwar auch in ihren Essays, zentrales Thema ist das allerdings in ihrem Buch Hunger. Die Geschichte meines Körpers, in dem sie vor allem davon erzählt, was ihr danach passierte. Vier Halbwüchsige vergewaltigten die Zwölfjährige in einer Hütte im Wald, nacheinander. In den Jahren darauf nahm sie immer mehr zu – irgendwann wog sie 260 Kilogramm.

Heute, schreibt sie, hat sie mit der Vergewaltigung nicht mehr zu kämpfen. Ja, es war schrecklich, und es hat sie verändert, aber "ich bin längst darüber hinweg". Nicht hinweg ist sie allerdings über die Zumutungen, mit denen dicke Menschen zurechtkommen müssen. "In einer Welt, in der jede und jeder glaubt zu wissen, warum mein Körper so ist, wie er ist, und warum der Körper anderer dicker Menschen so ist, wie er ist, bin ich stumm geblieben und habe meine Geschichte verschwiegen."

Roxane Gay, "Hunger. Die Geschichte meines Körpers". Übersetzt von Anne Spielmann, € 22,70 / 320 Seiten. btb-Verlag, 2019
Foto: btb-Verlag

In Hunger erzählt Gay eindrucksvoll davon, wie es ist, in einer Welt zu leben, in der "widerspenstige Körper", wie sie den ihren nennt, keinen Platz haben. Über Selbsthass und den Grund, warum es undenkbar für sie war, über die Vergewaltigung zu reden – geschweige denn sie anzuzeigen. Und warum sie essen wollte, und oft nichts anderes. Das erschütternde Grundrauschen dieses Buches ist nicht nur, dass sexualisierte Gewalt, wie Gay sie erlebt hat, noch immer nicht verhindert werden kann, sondern auch, dass auf diesen ersten Gewaltakt der nächste folgt.

Fast wie eine logische Konsequenz. Gesellschaftlich akzeptierte Gewalt, Gewalt, die für sie letztlich schlimmer ist, denn als Zwölfjährige mehrfach vergewaltigt zu werden. Gewalt, die über Jahrzehnte geht und oft nur von jenen gesehen wird, die selbst in einem großen Ausmaß nicht der Norm entsprechen. Die wie Gay vor Stühlen mit Armlehnen eine Heidenangst haben, vor Flügen, auf denen Mitreisende einen Riesenterror machen, wenn sie sehen, dass eine dicke Person neben ihnen sitzt, die die Blicke im Supermarkt kennen, wenn man seine Lebensmittel auf das Förderband legt, und dass einem dort Leute sogar Sachen aus dem Einkaufswagen nehmen – weil "sie meinen es ja gut".

Leichte Kost – und schwere

Hunger ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Gerade über den Körper gibt es viele davon: wenn man diesen Körper bezwungen hat, es "geschafft" hat, ihn gefällig zu machen. Oder wenn nicht das, dann wenigstens, dass man es geschafft hat, den Körper "trotzdem" zu lieben, wie es "Empowerment"-unterfütterte Ratgeber nahelegen. Für Gay ist aus beidem nichts geworden. Am Ende des Buches hat sie sich gegen ein Magenband entschieden. Doch etwas später hat sie sich eines einsetzen lassen – und machte seither wiederum eine ernüchternde Erfahrung: Seit sie weniger dick ist, behandeln sie die Menschen ein bisschen weniger wie einen Menschen zweiter Klasse, wie sie in einem Ted-Talk erzählte.

Roxane Gay, "Bad Feminist", Essays. Übersetzt von Anne Spielmann,
€ 10,30 / 416 Seiten. btb-Verlag, 2019
Foto: btb-Verlag

Trotz allem: Die Bücher von Roxane Gay durchzieht weder eine hoffnungslose Schwere noch ein starker Fokus auf ihre Gewalterlebnisse. Gay kennt das Wohlbehütete ebenso gut wie das Trostlose. Es gibt wohl nur wenige Intellektuelle, sie bereits auf so vielen unterschiedlichen Plätzen im sozialen Raum saßen. Zwar ist sie heute Literaturprofessorin, Autorin für den Guardian und die New York Times. Sie ist Mitautorin des Marvel-Comics World of Wakanda, der Vorlage des Actionfilms Black Panther (2018), ist Gastgeberin eines Buchklubs bei ViceNews und Social-Media-Star. Sie wachte aber auch in Betten auf, von denen aus der Weg zur Haustür mit getrockneter Katzenscheiße gepflastert war. Gay suchte schon viele Jahre vor Tinder online nach Menschen für Beziehungen oder einfach nach Leuten, die mit ihrem bisherigen Leben, mit dem sie phasenweise nicht mehr zurechtkam, rein gar nichts zu tun hatten. Sie arbeitete für einen Telefonsexanbieter, lebte für ihre ersten akademischen Jobs in der Einöde und übergab sich vor ihren ersten Vorlesungen.

Wahrscheinlich liegt Roxane Gay deshalb jegliches Gruppendenken fremd. Einigem, worüber sich viele Feministinnen einig sind, widerspricht sie. Sie tut dies allerdings, ohne die feministischste aller Wahrheiten für sich zu beanspruchen, und in einem empathischen Stil, der – käme er öfter zum Einsatz – wohl viele Gespräche trotz Auffassungsunterschieden aufrechterhalten würde.

Da geht es um leichtere Kost genauso wie um schwere: Sie argumentiert überzeugend, dass die Ärztinnen-Seifenoper Grey's Anatomy in der Darstellung nichtweißer Menschen fortschrittlicher ist als das hochgelobte Orange Is the New Black, Triggerwarnungen hält sie für sinnlos, und manchmal tanzt sie – wirklich ziemlich "bad" – zu Blurred Lines von Robin Thicke und Pharrell Williams. Zumindest Williams geniert sich übrigens inzwischen für den gewaltverniedlichenden Songtext, wie er kürzlich verriet. Nun, der Mann hat vielleicht Roxane Gay gelesen. (Beate Hausbichler, Album, 20.10.2019)