Als Maria Balshaw vor zwei Jahren zur Generaldirektorin der vier Tate-Museen berufen wurde, jubelte die britische Kunstwelt über die erste Frau auf einem der prestigeträchtigsten Posten des Landes. Dass aber gleichzeitig die Peripherie wieder einmal eine dynamische Persönlichkeit an das mit ungeheurer Energie alles Talent aufsaugende Zentrum verlor, spielte in der Berichterstattung keine Rolle. Mag die "resolute Frau aus dem Norden" auch bis heute ihren Lebensmittelpunkt in Manchester haben und wie Millionen von Briten nach London pendeln: Balshaw gehört nach einer Kindheit in Birmingham, einem Studium in Liverpool und langen Berufsjahren in Manchester doch zu Londons Mainstream.

Nichts deutet seither darauf hin, dass sie im Haus Akzente verschieben und Künstler stärker fördern will, die in den regionalen Wirtschaftszentren oder gar in der Provinz ansässig sind. Zum Tate-Imperium gehören zwar die Museen in Liverpool und St. Ives – das Powerhouse, zweitgrößte Kulturattraktion des Landes mit mehr als fünf Millionen Besuchern pro Jahr, bleibt aber Tate Modern am Themse-Ufer.

London hat entschieden, die Sache ist erledigt

Der Fall Balshaw steht symptomatisch für eines der zentralisiertesten Länder der westlichen Hemisphäre. In der Weltstadt London ballt sich die geistige, kulturelle, politische und wirtschaftliche Elite Großbritanniens. Der britische Teil der irischen Insel, die stolzen Schotten, die zunehmend selbstbewussten Waliser, auch einzelne Städte und die dazugehörigen Institutionen verfügen über ein starkes Selbstbild. Doch am Ende gilt, wie in der katholischen Kirche, doch nur das, was Rom – oder eben London – als Devise vorgibt.

Dieser Umstand hat viele Kritiker, auch an höchster Stelle. Typisch für die Lippenbekenntnisse vieler Engländer sprach der damalige Finanzminister Philip Hammond 2017 davon, in London sei "zu viel Macht konzentriert". Und eine hochkarätig besetzte Kommission des Thinktanks IPPR prangerte Großbritannien als "in geografischer Hinsicht unausgewogenste Volkswirtschaft Europas" an. Nach dem deutschen Vorbild der Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW, solle eine nationale Investitionsbank vernachlässigten Regionen und Sektoren der Wirtschaft mit langfristigen Krediten unter die Arme greifen – nicht zuletzt als Ausgleich für die zukünftig fehlenden Mittel aus dem EU-Kohäsionsfonds.

Den Brexit wünschten sich mehrheitlich nicht zuletzt die Menschen aus jenen Regionen des Landes, die wirtschaftlich und kulturell im Abseits liegen: weite Teile Englands jenseits der prosperierenden Region rund um London, der Norden, die alten Industriestädte der Midlands, die heruntergekommenen Küstenstädte an der Nordsee und am Ärmelkanal.

Bald ist Brexit-Time.
Foto: Standard

Premierminister Boris Johnson umwirbt sie alle mit dem Versprechen von Milliardeninvestitionen für Schulen, Krankenhäuser und Polizei. Schon meldet sich besorgt Johnsons Nachfolger als Londoner Bürgermeister, Sadiq Khan, zu Wort und fordert mehr Autonomie und mehr Investitionen: Ebenso wie andere Landesteile brauche London "eine ambitionierte neue Regionalisierungsstrategie".

Das zielt vor allem auf die ungebrochene Macht des Schatzkanzleramtes, das eine deutlich stärkere Stellung genießt als die Finanzministerien in vergleichbaren Industrienationen. Nicht umsonst lautet Johnsons offizieller Titel keineswegs Premierminister, sondern Erster Herr (First Lord) des Schatzkanzleramtes. Wer zahlt, schafft an – bis heute fließen mehr als 90 Prozent aller Steuereinnahmen hier zusammen.

Freilich hat die enorme Ungleichheit des Landes nicht nur finanzielle oder geografische Ursachen. Viele Furchen durchziehen Großbritannien, nicht zuletzt die Unterschiede sozialer Klassen. Wer zum Zentrum britischer Gesellschaft gehören will, muss nicht nur auf der "richtigen" Universität, also Oxford oder Cambridge, gewesen sein; die Auslese beginnt viel früher, und zwar über den Geldbeutel: In "Oxbridge" einen Studienplatz zu ergattern bleibt in schier unglaublichem Ausmaß das Privileg junger Leute, für deren Schulbildung die Eltern sechsstellige Summen auszugeben in der Lage sind.

Oxbridge als Elitenschmiede

Aus zwölf Privatschulen in und um London schaffen jährlich rund 500 junge Menschen die Aufnahme in Oxbridge. Die meisten Staatsschulen freuen sich, wenn in einem Jahrzehnt ein oder zwei Absolventen den Sprung schaffen. Sieben Prozent des Nachwuchses auf der Insel, so hat die Sutton-Stiftung 2017 errechnet, besuchen eine Privatschule.

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Die Skyline von London.
Foto: REUTERS/Hannah McKay/File Photo

Diese kleine Gruppe macht untereinander den größten Teil der Eliteposten aus: im Bildungswesen, in den Medien, in der Kultur, im Sport, in der Politik, in der Wirtschaft, bei den Streitkräften, in der Justiz. Zwei Drittel aller Oscar-Gewinner des Landes, die Hälfte aller olympischen Medaillengewinner, fast die Hälfte der Zeitungskolumnisten, ein Drittel der Rektoren der besten Unis, ein gutes Drittel aller Kabinettsminister, die Hälfte der derzeit 777 Lords im Oberhaus, 55 Prozent der beamteten Staatssekretäre, 44 Prozent der reichsten Geschäftsleute, 71 Prozent der höheren Offiziere, drei Viertel der Höchstrichter – allesamt, Frauen wie Männer, Weiße wie Angehörige ethnischer Minderheiten, erhielten die Grundlage ihrer Bildung an einer Handvoll von Institutionen wie Winchester oder Eton, deren Ursprünge vor Jahrhunderten ironischerweise oft auf wohltätige Stiftungen zugunsten armer Kinder zurückgehen.

Das Resultat ist "die materiell am schärfsten geteilte Gesellschaft britischer Geschichte", schreibt der Autor und Journalist Robert Verkaik in seinem Buch Posh Boys. Die 1000 reichsten Familien verfügen über ein Gesamtvermögen von 547 Milliarden Pfund (632 Milliarden Euro), während vier Millionen von derzeit 66 Millionen Briten in dauerhafter Armut leben. "Wer arm geboren wird, stirbt wahrscheinlich auch arm", schreibt Verkaik und fügt sarkastisch hinzu: "Und der weiß noch nicht einmal, dass es gemeinnützige Einrichtungen wie Harrow, Charterhouse oder Eton gibt." Tatsächlich genießen die Schulen der Reichen und Privilegierten bis heute den steuerbegünstigten Status von Wohltätigkeitseinrichtungen.

Unter dem "Old Etonian" Boris Johnson wird sich daran ebenso wenig ändern wie unter der Vorherrschaft Englands und seiner Hauptstadt. Einzig Schottland hat sich zuletzt ein wenig aus dem Korsett finanzieller Vorgaben aus London befreit. Der 1707 mit England geschlossene Vertrag zur Union als Großbritannien sicherte dem Bildungssystem mit der damals in Europa einzigartigen allgemeinen Schulpflicht, dem Rechtssystem sowie der presbyterianischen Kirche den Fortbestand ihrer Sonderrechte zu. Ermöglicht wurde dadurch der Aufstieg von Edinburgh – dem "Athen des Nordens" – zu einem der wichtigsten Standorte der europäischen Aufklärung. Schotten wirkten weit über ihren Anteil an der gesamtbritischen Bevölkerung hinaus an führenden Stellen im Empire und der Londoner Administration.

Braindrain Richtung Norden

Doch seit die Labour-Regierung 1997 dem Drängen des Nordens nach einem eigenen Parlament nachgab, verzeichnet London einen Braindrain hochkarätiger Beamter und Politiker: Waren 1997 unter Tony Blair die Ressortchefs für Finanzen, Äußeres, Verteidigung, Justiz und Verkehr allesamt aus dem Norden, so gibt es heute weder im Labour-Schattenkabinett noch in Johnsons Regierung auch nur eine prominente schottische Stimme.

Während bei der Volksabstimmung 2014 noch 55 Prozent der Schotten am Vereinigten Königreich festhalten wollten, "gab es zuletzt erstmals seit drei Jahren in einer Umfrage eine knappe Mehrheit für die Unabhängigkeit", berichtet der Sozialwissenschafter Jan Eichhorn von der Universität Edinburgh. Es scheint, als ob die Union gleichsam unbewusst zerfällt. (Sebastian Borger aus London, 18.10.2019)