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Taugt Boris Johnson, dessen Leave-Kampagne im Brexit-Referendum die Wählerschaft nachweislich belogen hat, nun als Versöhner der Nation?

Foto: REUTERS/Toby Melville

Bei der bisher letzten samstägigen Sondersitzung des britischen Unterhauses vor 37 Jahren herrschte strahlendes Frühlingswetter. Doch tags zuvor hatten Truppen der Militärjunta Argentiniens die Falkland-Inseln (Malvinas) im Südatlantik besetzt, weshalb die Stimmung im Unterhaus düsterer kaum hätte sein können.

Für diesen Samstag haben die Meteorologen durchwachsenes Wetter angekündigt – eine nützliche Vokabel, auch zur Beschreibung der parlamentarischen Verhältnisse. Die Sondersitzung ist offiziell dem am Donnerstag in Brüssel bekanntgegebenen EU-Austrittspaket gewidmet. Doch wenn am Vormittag gegen 9.30 Uhr Ortszeit der Premierminister seine Regierungserklärung beginnt, steht nicht nur der Ausgang der mehr als dreieinhalbjährigen Brexit-Saga auf dem Spiel; es geht um die schwer gebeutelten demokratischen Institutionen, um den Zusammenhalt des Landes – und nicht zuletzt um die politische Karriere des Alexander Boris de Pfeffel Johnson.

May scheiterte dreimal

Anders als im April 1982 steht am Ende der Debatte diesmal eine Abstimmung. Zum vierten Mal entscheiden die britischen Volksvertreter, ob sie dem ausgehandelten Paket aus Austrittsvertrag und politischer Zukunftserklärung zustimmen wollen. Dreimal ist die frühere Premierministerin Theresa May gescheitert. Bis zuletzt rätselte ganz Europa, ob es ihrem Nachfolger, der sich selbst stets als vom Glück Begünstigter eingeschätzt hat, besser ergehen werde.

Zwar hat das Unterhaus 650 Mitglieder. Weil aber die sieben Mandatsträger der irisch-republikanischen Sinn Féin sowie der Parlamentspräsident Speaker John Bercow und seine beiden Stellvertreter nicht abstimmen, lautet die in Westminster gehandelte magische Zahl 320. Die Tory-Fraktion verfügt derzeit über 288 Mitglieder, die bisher regierungstreuen Unionisten der DUP haben ihre Ablehnung angekündigt. Und so sahen sich die erst vor sechs Wochen aus Partei und Fraktion geworfenen Ex-Torys, andere unabhängige Abgeordnete sowie Brexit-willige Labour-Mandatsträger am Freitag intensivem Liebeswerben des Premierministers und seiner Leute ausgesetzt. Umgekehrt versuchten die Oppositionsparteien, ihre Leute bei der Stange zu halten – und das unter intensiver Anteilnahme der britischen und internationalen Medien.

Doch ob die entscheidende Abstimmung über den Deal am Samstag tatsächlich stattfinden würde, war zuletzt fraglich. Ein Abänderungsantrag bringt nämlich eine Vertagung ins Spiel: Das Amendment von Oliver Letwin sieht vor, dass das Unterhaus die Zustimmung zum Abkommen auf jenen Zeitpunkt vertagt, an dem das tatsächliche Austrittsgesetz ratifiziert wird. Das würde wohl kommende Woche passieren. Letwin will damit ein Schlupfloch des Benn Act schließen, der ja vorgesehen hätte, dass der Premier nur um eine Verlängerung bei der EU ansuchen muss, wenn im Unterhaus bis 19. Oktober keine Mehrheit für einen Deal oder einen No-Deal-Brexit vorliegt. Sollte das Unterhaus aber am Samstag zustimmen, fürchtet Letwin, dass die No-Deal-Unterstützer dem Gesetz nächste Woche dann ihre Zustimmung verweigern – und es dann doch noch zum ungeregelten Austritt kommt. Wird das Amendment beschlossen, müsste Johnson in jedem Fall bis zum Ende des Tages eine Vertagung des Brexits bei der EU beantragen. Er dürfte diesen Antrag aber wieder zurückziehen, sobald das eigentliche Gesetz beschlossen ist.

Ins Rampenlicht

Bisher hat der Brexit-Poker völlig unbekannten Hinterbänklern der Tory-Fraktion ungeahnte Aufmerksamkeit verschafft. Diesmal konzentriert sich das Rampenlicht auf obskure Labour-Mandatsträger wie Ronald Campbell, 76. "Die Leute haben die Nase voll von dem Theater", darf der frühere Kohlekumpel nun in die Mikrofone sagen und sich über die Aufmerksamkeit wichtiger Parteifreunde wie Generalsekretär Ian Lavery freuen. Vielleicht schafft der es noch, den Genossen Campbell wenigstens zu einer Enthaltung zu bewegen.

Die wichtigste Oppositionspartei war in der Brexit-Frage bis zuletzt so zerrissen wie das Land. Führende Aktivisten wie Momentum-Chef Jonathan Lansman und Parteivize Tom Watson wollten ein zweites Referendum durchsetzen, Brexiteers wie Campbell drohten sie mit dem Entzug ihrer Wahlkreise. Doch ob die neuerliche Volksabstimmung am Samstag überhaupt zur Wahl stehen würde, blieb bis spät in den Freitag hinein offen. Bei einer Abstimmung im Februar unterlagen deren Befürworter nur ganz knapp; diesmal schien der Abstand eher noch größer zu sein.

Gerichtsentscheid

Erst am Freitagabend wies das Sessionsgericht von Edinburgh eine Klage ab, mit der Brexit-Gegner die ganze Parlamentsdebatte in letzter Minute noch verhindern wollten. Zur Begründung führten sie ironischerweise ein Gesetz an, das eingefleischte Brexiteers im vergangenen Jahr durchgesetzt hatten: Ihrer Majestät Regierung dürfe keinesfalls der Aufteilung des Vereinigten Königreichs in unterschiedliche Zollterritorien zustimmen. Strenggenommen ist damit der vorliegende Austrittsvertrag illegal, sieht er doch eine Sonderregelung für Nordirland vor.

Der Brexit-Wirbel erfasste sämtliche Institutionen und stellte sie infrage. Die unklaren, im Halbdunkel von Tradition, "normalem Verhalten" und Fair Play gelegenen Ecken der ungeschriebenen Verfassung wurden grell ausgeleuchtet. Die sehr britische Art der Improvisation, die mehr oder weniger kompetente Wurstelei, steht in der Kritik. Plötzlich gibt es wieder Rufe nach einem Konvent, einer Art Nationalversammlung, die sich mit der Balance staatlicher Institutionen und deren Kontrolle befassen soll.

Das Unwohlsein geht weit über Boris Johnson hinaus, aber der derzeitige Bewohner der Downing Street hat es gefördert. Seine Missachtung des Parlaments rief den Supreme Court auf den Plan. Tagelang debattierte das Land allen Ernstes darüber, ob der Erste Minister Ihrer Majestät geltendes Recht einhalten würde – das erst im Vormonat beschlossene sogenannte Benn-Gesetz verpflichtet ihn zu einem Antrag auf Verlängerung der Austrittsperiode über den 31. Oktober hinaus, falls das Parlament nicht bis zum Abend des 19. Oktober einer Brexit-Lösung, so oder so, zugestimmt hat. Aber anonyme Spindoktoren in der Downing Street – infrage kommt eigentlich nur Chefberater Dominic Cummings – ließen durchblicken, Johnson werde seine Unterschrift erst dann leisten, wenn die Gerichte ihm die Kriminalpolizei ins Haus schicken. Und sollte das Parlament ihm das Misstrauen aussprechen und einen Alternativkandidaten als Premierminister präsentieren? Dann werde Johnson den Regierungssitz in ein besetztes Haus verwandeln.

Versöhner der Nation?

Dass sich dieser Tage in London ernsthafte Verfassungsexperten den Kopf über die Frage zerbrechen, unter welchen Umständen Königin Elizabeth II ihren Premierminister entlassen könnte, hat nichts mit dem Brexit, sondern ausschließlich mit Boris Johnson zu tun. Er und seine Berater scheinen Joseph Schumpeters makroökonomisches Konzept der "schöpferischen Zerstörung" in die Politik übertragen zu wollen.

Taugt dieser Mann, dessen Leave-Kampagne im Brexit-Referendum die Wählerschaft nachweislich belogen hat, nun als Versöhner der Nation? Indirekt müssen die Parlamentarier an diesem Wochenende auch auf diese Frage eine Antwort finden. (Sebastian Borger aus London, red, 18.10.2019)