Grünen-Parteichefin Regula Rytz freut sich.

Foto: APA/AFP/FABRICE COFFRINI

Im der Berner Parteizentrale der Grünen hängt eine historische Küchenuhr.

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Zürich – Die Grünen haben bei der Schweizer Parlamentswahl am Sonntag einen historischen Durchbruch geschafft und klopfen nun an die Regierungstür. Sie legten laut einer Hochrechnung um sechs Punkte auf 13 Prozent zu, womit sie die kleinste Regierungspartei CVP überholten. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) blieb stärkste Kraft, verbuchte aber ihr schlechtestes Ergebnis seit 1999.

Die ausländerfeindliche und europakritische Partei kam auf 25,8 Prozent der Stimmen, um 3,6 Punkte weniger als bei der Nationalratswahl 2015. SVP-Chef Albert Rösti wertete es in der Elefantenrunde des Schweizer Fernsehens (SRF) als Erfolg, dass seine Partei "trotz monatelangen Diskussionen aller Medien über das Klima" immer noch von einem Viertel der Schweizer gewählt worden sei.

Auch die drei anderen Regierungsparteien mussten bei der Nationalratswahl Federn lassen. Die Sozialdemokraten (SP) verloren 2,2 Punkte auf 16,6 Prozent, die Freisinnig-demokratische Partei (FDP) 1,1 Punkte auf 15,3 Prozent. Am glimpflichsten kam die CVP mit minus 0,2 Punkten davon. Allerdings zählt sie mit 11,4 Prozent erstmals seit über einem Jahrhundert nicht mehr zu den vier stimmenstärksten Parteien des Landes.

Parlamentswahl in der Schweiz.
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Experten sprachen deswegen von einer "historischen Wahl" und einer beispiellosen Mobilisierung vor allem junger Wähler. "Das ist jetzt ein ganz neues Spiel", kommentierte der Politikwissenschafter Lukas Golder die für eidgenössische Verhältnisse geradezu tektonischen Verschiebungen. Noch nie zuvor habe eine Partei bei einer Wahl so stark gewonnen wie die Grünen, die im Nationalrat 17 Sitze auf nunmehr 28 zulegte.

"Das ist fast ein Erdrutschsieg", zeigte sich Grünen-Chefin Regula Rytz in der Elefantenrunde "überwältigt" vom Erfolg ihrer Partei. Zugleich stellte sie den Anspruch auf eine Vertretung der Grünen im Bundesrat, der siebenköpfigen Schweizer Regierung. "Es ist klar, dass die Bevölkerung eine grünere Politik will", sagte sie. Da die Mitte-Links-Parteien künftig eine Mehrheit im Parlament hätten, müsse sich auch im Bundesrat etwas ändern.

SP-Chef will Aufteilung diskutieren

SP-Chef Christian Levrat schlug in dieselbe Kerbe und verwies darauf, dass die Rechtsparteien SVP und FDP vier der sieben Bundesräte stellen, aber künftig nur noch 83 der 200 Nationalratsmandate haben werden. "Spätestens" beim nächsten Rücktritt eines Regierungsmitglieds müsse daher die Verteilung der Bundesratssitze auf die Parteien diskutiert werden, signalisierte Levrat Zustimmung zu einem Grünen Bundesrat, der wohl auf Kosten der FDP gehen wird.

Bei Schweizer Parlamentswahlen sind große Verschiebungen selten, die Regierungszusammensetzung ist seit sechs Jahrzehnten praktisch unverändert. Die "Zauberformel" sieht vor, dass sich SVP, SP, FDP und CVP die sieben Bundesräte aufteilen. Dieses Machtkartell dürfte vor allem dann ins Wanken geraten, wenn der Anspruch der Grünen auf einen Regierungssitz auch von der bürgerlichen Grünliberalen Partei (GLP) unterstützt werden sollte. Diese konnte bei der Nationalratswahl auf 7,9 Prozent (plus 3,3 Punkte) zulegen. Gemeinsam werden die beiden Ökoparteien künftig 44 Nationalräte haben, um 26 mehr als bisher.

FDP will "Zauberformel" behalten

Die Regierungsmitglieder werden nach jeder Parlamentswahl von den Abgeordneten gewählt, wobei wiederantretende Bundesräte traditionell im Amt bestätigt werden. FDP-Chefin Petra Gössi warnte davor, die Zauberformel "aufzulösen". "Wir sollen in dieser grünen Welle nicht alles über den Haufen werfen. Was die Schweiz stark gemacht hat, war Stabilität", sagte sie in der Elefantenrunde. Die Wahl des neuen Bundesrates findet Anfang Dezember statt.

Parlamentswahlen sind in der Schweiz von vergleichsweise geringer politischer Bedeutung, weil die Stimmbürger wesentliche Fragen an mehreren Abstimmungstagen im Jahr direkt entscheiden. Schon 50.000 Unterschriften reichen aus, damit über einen Gesetzesbeschluss ein Referendum stattfinden muss. Wenn es wichtig ist, hat also in der Regel das Volk das letzte Wort.

Gewählt wurde am Sonntag auch die zweite Parlamentskammer, der Ständerat mit insgesamt 46 Mitgliedern. Jeder Kanton hat dort unabhängig von seiner Bevölkerungsgröße zwei Sitze (bzw. einen im Fall der sechs Halbkantone). Auch bei den Ständeratswahlen gab es zum Teil historische Ergebnisse für die Grünen. Sie konnten nicht nur einen Sitz im Westschweizer Neuenburg erobern, sondern schnappten auch einem SVP-Ständerat im konservativen Alpenkanton Glarus das Mandat weg. Bisher gab es nur einen Grünen im Ständerat. Allerdings wurde nur die Hälfte der Sitze am Sonntag besetzt, da bei den restlichen Stichwahlen erforderlich sind.

Auffallend war das landesweit gute Abschneiden von Frauen. In Obwalden und Zug setzte es sogar Einträge für die Geschichtsbücher: Beide Kantone schicken erstmals eine Frau in den Nationalrat. Der Kanton Uri wählte am Sonntag seine erste Ständerätin. Beobachter verwiesen diesbezüglich auf die Bewusstseinsbildung durch den Frauenstreik, bei dem im Juni Hunderttausende Schweizerinnen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten für mehr Gleichberechtigung auf die Straße gegangen waren. (APA, 20.10.2019)