Wer glaubt, Eva habe Adam mit einem normalen Apfel verführt, der irrt: Bei der Frucht, die im ersten Testament zum Sündenfall geführt hat, handelt es sich laut jüdischer Überlieferung um eine besondere Varietät der Zitronatzitrone, den sogenannten Etrog. "Er ist die perfekte Frucht von einem perfekten Baum", betont der 85-jährige Rabbiner der Mailänder Synagoge, Moshe Lazar. Auf dem Weg der Juden durch die Wüste in Richtung des Gelobten Landes sei Moses von Gott angewiesen worden, die Frucht beim Laubhüttenfest Sukkot, dem jüdischen Erntedankfest, zu verwenden. "Der Etrog ist die Frucht des Paradieses", betont der Rabbiner. Die Bezeichnung "Apfel" sei nichts anderes als ein Übersetzungsfehler.

Der Paradiesapfel, der in Wahrheit eine Zitrusfrucht ist, stammte wahrscheinlich aus dem Himalaja-Gebiet und wird seit langem im Nahen Osten, in Nordafrika und in Südamerika kultiviert. Doch die perfektesten Früchte wachsen in Kalabrien, wo sie in der Antike von jüdischen Einwanderern eingeführt worden waren.

Rabbiner aus aller Welt fahren jährlich nach Kalabrien, um makellose Früchte zu finden.
Foto: AFP/ALBERTO PIZZOLI

Die Qualität der kalabrischen Varietät, des Citrus medica, ist so herausragend, dass jedes Jahr von Juli bis Oktober hunderte Rabbiner aus der ganzen Welt anreisen, um sich für Sukkot, das am Sonntag zu Ende gegangene jüdische Laubhüttenfest, mit den schönsten Exemplaren einzudecken. Für den Transport wird jede Frucht einzeln eingewickelt und wie ein Juwel in eine gepolsterte Schale gelegt. Der Preis für einen einzigen perfekten Etrog kann schnell auf über 200 Euro steigen.

Wenige und kleine Plantagen

In Kalabrien heißt der Paradiesapfel einfach Cedro. Die Frucht hat dem Anbaugebiet in der nordkalabrischen Provinz Cosenza den Namen gegeben: Die wenigen und kleinen Plantagen verteilen sich auf einen rund 40 Kilometer langen Küstenstreifen, die Riviera dei Cedri, mit dem Hauptort Santa Maria del Cedro. Hier hat die empfindliche Zitrusfrucht ideale Bedingungen vorgefunden: In der schmalen Ebene zwischen dem Tyrrhenischen Meer und dem kalabrischen Küstengebirge vermischen sich die feuchtwarmen Winde des Meeres mit dem kühlen Talwind aus den Bergen.

Der Cedro ist nicht nur für die Juden heilig, sondern auch für die einheimischen Bauern. "Die Bäume sind nicht viel mehr als einen Meter hoch. Wenn sie die Bäume schneiden und die Früchte ernten, tun das unsere Bauern auf den Knien, als würden sie beten", sagt Angelo Adduci, Präsident des Konsortiums der Cedro-Produzenten. Der Cedro habe zu einer großen Verbundenheit von Santa Maria del Cedro und ganz Kalabrien zur jüdischen Kultur und zur jüdischen Welt geführt, sagt er.

Der Präsident des Cedro-Konsortiums, Angelo Adduci, auf einer Plantage in Kalabrien. In der Hand hält er einen Paradies-Apfel
Foto: Straub

Beim Cedro, der in Kalabrien seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. kultiviert wird, habe es sich schon immer um eine Nischenproduktion gehandelt. "Ein einzelner Bauer hat nicht Tausende von Bäumen, sondern vielleicht 50 oder 100", sagt Adduci. Bis in die 1960er- und 1970er-Jahre habe man zwar immerhin 16.000 Tonnen der Paradiesfrucht gepflückt, doch bis zum Jahr 1982 sei die Produktion auf 200 Tonnen gesunken. "Die Symbolpflanze unseres Territoriums drohte auszusterben." Um den Cedro zu retten, habe man Ende der 1990er-Jahre das Konsortium gegründet – mit dem Ziel, die Produktion wieder auf mindestens 4000 Tonnen zu steigern und vor allem auch die Produktpalette zu diversifizieren.

Nur perfekte Früchte für Rabbis

Denn die Rabbis sind aus religiösen Gründen nur an den makellosen Früchten interessiert – die weniger perfekten müssen anderweitig verwendet werden. "Bis vor wenigen Jahren wurden die Früchte in Salzlake gelegt und dann als Halbfertigprodukt zu niedrigen Preisen weiterverkauft. Anschließend wurden sie zu Zitronat kandiert, das fast mit Gold aufgewogen wurde. Aber unsere Bauern hatten davon so gut wie nichts", sagt Adduci.

Wegen eines verheerenden Kälteeinbruchs im Februar 2017 habe man das 4000-Tonnen-Ziel bisher zwar verfehlt, aber inzwischen seien in der Region dutzende verarbeitende Betriebe entstanden. "Dank seines starken Dufts machen wir aus dem Cedro nun Liköre, Marmelade, Sirup, Limonaden und Extrakte für die Parfümindustrie sowie für Kosmetik- und Gesundheitsprodukte", sagt Adduci. Auch immer mehr Spitzenköche verwendeten den Cedro, insbesondere bei Fischgerichten.

In Jerusalem werden während des Laubhüttenfests die Früchte genau begutachtet.
Foto: AFP/AHMAD GHARABLI

Hoffen auf mehr Touristen

Weiter ausbaufähig sei die Produktion und Verarbeitung der Frucht vor allem dank des Tourismus, ist Adduci überzeugt. Das in einem prächtigen spätmittelalterlichen Palazzo untergebrachte Cedro-Museum in Santa Maria del Cedro wird bereits heute von jährlich 50.000 Touristen besucht, aber es dürften laut dem Präsidenten des Konsortiums auch gerne noch mehr werden.

"Der Cedro ist ein Symbol des Friedens und der Hoffnung, er verkörpert den Traum einer besseren Zukunft für unsere arme und periphere Region Kalabrien", sagt Adduci. Das Potenzial für mehr Synergien mit dem Tourismus ist durchaus vorhanden: An der Riviera dei Cedri befinden sich einige der schönsten Badeorte der kalabrischen Provinz Cosenza. (Dominik Straub aus Santa Maria del Cedro, 21.10.2019)