Am Sonntag räumten die Syrischen Demokratischen Kräfte Serê Kaniyê (Arabisch: Ras al-Ain), nachdem sie die Stadt tagelang unter großen Verlusten gegen die türkische Armee und protürkische islamistische Milizen gehalten hatten. Mit im langen Konvoi aus KämpferInnen und ZivilistInnen befanden sich nicht nur die verbliebenen kurdischen BewohnerInnen der Stadt, sondern auch die aramäischen und armenischen ChristInnen.
Ausgerechnet jene beiden Städte, die nun in der Hand der türkischen Armee sind, Serê Kaniyê und das bereits wenige Tage nach Beginn der türkischen Angriffe eroberte Tal Abyad, beherbergen auch armenische Gemeinden, in denen Nachkommen der Überlebenden des Genozids von 1915 leben.

In die syrische Wüste getrieben

Die Deportationszüge der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches führten 1915 genau hier her. In die syrische Wüste wurden hunderttausende ArmenierInnen getrieben. In Höhlen nördlich von Deir az-Zor findet man heute noch die Knochen und Schädel der Ermordeten. Etwa 1 1/2 Millionen Menschen kostete der Genozid, den die Jungtürken während des ersten Weltkrieges gegen die armenische Bevölkerung ihres Reiches verübten, das Leben.

Gedenkstätte für die Opfer des Genozids von 1915 beim armenischen Gemeindezentrum in Qamishli.
Thomas Schmidinger

Jene, die den Genozid überlebten landeten großteils im späteren französischen Protektorat Syrien. Ihre Nachkommen sprechen bis heute Westarmenisch, also jene Variante des Armenischen, die im Osmanischen Reich gesprochen wurde und die sich vom Ostarmenischen, der Amtssprache der heutigen Republik Armenien und der ArmenierInnen im Iran stark unterscheidet. Neben Aleppo und Deir az-Zor, bildete die Jezire, im Nordosten Syriens eine neue Heimat für die Überlebenden, die hier unter französischem Protektorat neue Gemeinden aufbauten. Einige dieser Gemeinden, wie jene von Afrin oder Kobane verschwanden in den 1960er-Jahren durch die Binnenmigration vieler ArmenierInnen nach Aleppo, aber auch durch Auswanderung nach Frankreich, in den Libanon und nach Sowjet-Armenien wieder. Andere blieben bis heute erhalten.

Armenisch-katholische Kirche von Qamishli, 1999.
Thomas Schmidinger

ArmenierInnen in Rojava

Die armenischen Gemeinden bildeten immer einen fixen Bestandteil der größeren Städte in der Region. In Qamishli gibt es neben einer armenisch-apostholischen Gemeinde auch eine mit der römisch-katholischen Kirche unierte armenisch-katholische Kirche. Armenisch-apostolische Gemeinden gibt es noch in Derik und Hasaka, sowie bis vor wenigen Tagen in Tal Abyad und Serê Kaniyê.

Armenisch-apostholische Kirche in Derik.
Thomas Schmidinger

Der Krieg der letzten Jahre hat die armenischen Gemeinden ausgedünnt. Der alte Priester der Gemeinde in Derik, ist mittlerweile pflegebedürftig. Für ihn konnte kein Ersatz gefunden werden. Manch ArmenierIn ist seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs nach Armenien oder nach Europa ausgewandert. Trotzdem leben bis heute mehrere tausend ArmenierInnen in den Autonomiegebieten Nord- und Ostsyriens. Die ArmenierInnen bilden dort eine anerkannte Komponente der Bevölkerung. In Qamishli gibt es weiterhin armenische Schulen in denen die Kinder auf Armenisch und Arabisch unterrichtet werden.

Jedes Jahr wird der 24. April auch hier feierlich als Völkermordgedenktag begangen. Auch wenn viele der Enkel und Urenkel der Überlebenden von 1915 bis heute noch Türkisch als eine ihrer vielen Sprachen beherrschen, wurde der nördliche Nachbar hier immer gefürchtet. Da die Türkei den Genozid nie eingestanden und sich dafür nie entschuldigt hatte, fürchten viele ArmenierInnen, dass das, was vor 104 Jahren geschehen ist auch heute wieder geschehen kann. Kein Mitglied der armenischen Gemeinden in der Region vertraut darauf, dass der Genozid Geschichte wäre. Viele halten ihn nur für unterbrochen.

Der letzte armenische Priester von Derik mit seiner Frau und Tochter 2014.
Thomas Schmidinger

Vom IS und der Türkei geflohen

Besonders tragisch verlief die jüngste Geschichte der armenischen Gemeinde von Tal Abyad. Als der IS die Stadt übernommen hatte, mussten die meisten Christen fliehen. Nur wenige blieben und zahlten die Jizya, die Kopfsteuer, die der IS sich auf klassisch-islamisches Recht berufend von den Angehörigen der Buchreligionen verlangte. Die dortige Kirche zum heiligen Kreuz wurde bereits im Oktober 2013 niedergebrannt und geschändet. Erst nach der Befreiung der Stadt durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG - heute Teil der Syrischen Demokratischen Kräfte SDF - wurde die Kirche mit kurdischer Hilfe wieder aufgebaut. Viele der geflohenen ArmenierInnen kehrten zurück.

Nun musste die Gemeinde erneut die Stadt verlassen. Die türkischen Eroberer stellten PKK-Fahnen in die Kirche und schossen einige Fotos um zu "beweisen", dass die YPG die Kirche geschändet hätten. Tatsächlich waren die ArmenierInnen bereits von den herannahenden Türken geflohen, ehe diese mit ihren islamistischen Verbündeten die Stadt einnehmen konnten. 

Seit die Türkei die Stadt beherrscht, ist wieder kein Platz für die christlichen Minderheiten. Am Wochenende tauchten erstmals Bilder auf, die belegen, dass eine der mit der Türkei verbündeten islamistischen Milizen, die Jabhat al-Shamiyah, Häuser von ArmenierInnen und ebenfalls christlichen AssyrerInnen geplündert und als beschlagnahmt gekennzeichnet hatten.

Serê Kaniyê von Christen gesäubert

Seit Sonntag gibt es auch in Serê Kaniyê keine Christen mehr. Die multiethnische Stadt hatte früher mehrere christliche Kirchen. Neben syrisch-orthodoxen, syrisch-katholischen und assyrischen Christen gab es auch hier eine armenisch-apostolische Gemeinde.

Kirche in Serê Kaniyê 2016.
Thomas Schmidinger

Sollte die internationale Gemeinschaft nicht doch noch gegen die türkische Invasion in der Region einschreiten, wird diesen Sonntag wohl das letzte Mal ein christlicher Gottesdienst in der Stadt gefeiert worden sein. Wie die kurdischen ZivilistInnen befinden sich auch die ArmenierInnen aus Serê Kaniyê auf der Flucht.

Selbst jene aus Qamishli und Derik - beides Städte die innerhalb der von der Türkei beanspruchten "Sicherheitszone" liegen, sitzen bereits auf gepackten Koffern und überlegen ob sie nach Aleppo oder doch nach Europa oder nach Armenien gehen sollen. Die letzten Reste der westarmenischen Kultur, die hier nach dem Genozid von 1915 wieder Fuß fassen konnte, werden so durch die türkische Invasion erneut zerstört. (Thomas Schmidinger, 21.10.2019)

Weitere Beiträge von Thomas Schmidinger