Serbien verhandelt seit 2014 mit der EU. Aleksandar Vucic sorgte vor allem für eine strikte Budgetpolitik. Doch die notwendigen Rechtsstaatsreformen blieben aus. Serbien wendet sich zunehmend Ungarn zu.

STANDARD: Sie haben gerade mit den Premierministern von Nordmazedonien und Albanien vereinbart, eine Art Mini-Schengen zu schaffen. Wollen Sie also eine Zollunion – und wann soll sie in Kraft treten?

Vučić: Man kann nicht mehr nur von Erweiterungsermüdung in den EU-Staaten sprechen, sondern jetzt geht es um die Vermeidung jeglicher Aufnahme von neuen Staaten in absehbarer Zeit. Deshalb sollten wir uns jetzt um uns selbst kümmern und uns darauf konzentrieren, die vier Freiheiten hier zu erreichen – freier Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr. Zurzeit brauchen wir unsere Reisepässe, wenn wir nach Tirana oder Shkodra fahren. Ende des Jahres werden wir wohl erreicht haben, dass wir nur mehr mit dem Personalausweis reisen können.

STANDARD: Ich reise in der Region mit dem Personalausweis, das funktioniert bereits.

Vučić: Ja, wenn Sie von Bosnien-Herzegowina nach Serbien reisen.

STANDARD: Auch wenn ich nach Nordmazedonien und Albanien reise.

Vučić: Ja, aber nicht, wenn man von Serbien nach Albanien reist (zwischen Serbien und Albanien gibt es keine Grenze, weil der Kosovo dazwischen liegt, Anm. der Red.). Unser Ziel ist letztlich, dass es keine Grenzkontrollen mehr gibt. Aber das wird nicht leicht erreichbar sein. Gleichzeitig müssen wir Barrieren und Hindernisse für den Warentransport an den Grenzen aufheben, denn damit können wir mehr als sieben Prozent der operativen Kosten einsparen. Und wir arbeiten daran, dass Arbeitserlaubnisse, die in Albanien ausgestellt werden, auch hier in Serbien gültig sein werden.

STANDARD: Wann könnte eine Zollunion umgesetzt werden?

Vučić: Ende 2022 könnte es realistisch sein.

STANDARD: Was sind die Bedingungen für die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen dem Kosovo und Serbien?

Vučić: Es gibt nur eine Bedingung. Sie müssen die 100-Prozent-Zölle aufheben, und dann sollten wir alle Angelegenheiten ohne Vorbedingungen diskutieren. Aber wenn man bereits vor einem möglichen Dialog sagt: Wir diskutieren nicht über Territorien, wir diskutieren keinen autonomen Status für den Norden, was sollen wir dann überhaupt diskutieren? Unter diesen Umständen gibt es keine Verhandlungen.

STANDARD: Albin Kurti, der mögliche neue Premier im Kosovo, dürfte die Zölle aufheben, aber er will, dass Serbien die kosovarischen Nummerntafeln anerkennt. Können Sie sich das vorstellen?

Vučić: Kurti liest die Vereinbarungen nicht. Es gibt bereits eine Vereinbarung zu den Nummerntafeln, demnach müssen Autos mit kosovarischer Nummer eine Etikette auf die Nummerntafel kleben und umgekehrt. Wenn Kurti aber etwas neu arrangieren will, dann lass uns sehen, was wir machen können. Wissen Sie, die waren niemals ein Staat und sind frustriert und reden deshalb über dumme Sachen.

STANDARD: Werden Sie den Kosovo als gleichberechtigtes Mitglied der internationalen Gemeinschaft jemals als Staat anerkennen?

Vučić: Das ist für uns eine schwierige Frage. Aber wir wollen sehen, was sie (gemeint sind die kosovarischen Verhandler, Anm. der Red.) sagen und warum sie etwas sagen. Natürlich wollen wir auch hören, was die EU zu sagen hat. Bisher hat die EU keine Vorbedingungen an Serbien gestellt. Wir haben aber von den Amerikanern gehört, dass sich das geändert haben könnte, aber wir wollen das von unseren europäischen Partnern hören. Ich kann nicht ausschließen, dass die EU nach einer Anerkennung fragt, aber bisher haben sie das nicht getan. Ihre Idee war ein Modell wie der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag – ohne formelle Anerkennung durch Serbien. Das wäre natürlich viel einfacher für Serbien.

STANDARD: Falls es zu einer Anerkennung des Kosovo durch Serbien kommt, würde diese in den bestehenden Grenzen erfolgen? Oder schließen Sie das aus?

Vučić: Ich kann Ihnen sagen, dass ich das so gut wie absolut ausschließe.

STANDARD: Bedeutet dies, dass dies nur dann durchgeführt würde, wenn es zu einer Grenzänderung oder einem Gebietstausch kommt?

Vučić: Ich weiß nicht, was passieren wird. Denn es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wir den Kosovo anerkennen. Ich denke nicht, dass das passieren wird. Aber wir können nicht die Tore zum Dialog schließen. Beide Seiten müssen verlieren, damit eine Win-win-Situation entsteht. Es kann nicht so sein, dass die (gemeint ist das kosovarische Verhandlungsteam, Anm. der Red.) alles bekommen, die Anerkennung, unsere Territorien und unsere Leute. Was bekommen wir? Eine mögliche EU-Mitgliedschaft in zehn Jahren? Und wer garantiert uns das? Wird es so eine Garantie sein, wie sie Nordmazedonien bekommen hat, dem versprochen wurde, dass die Beitrittsverhandlungen eröffnet werden?

STANDARD: Kürzlich gab es bei den Wahlen im Kosovo einen Generationswechsel. Wird das einen Einfluss auf den Dialog haben?

Vučić: Ich fürchte mich vor diesem Einfluss. In den letzten Tagen waren deren öffentliche Stellungnahmen dreimal ärger als die Stellungnahmen von Hashim Thaçi und Ramush Haradinaj (Präsident und Premier von Kosovo, Anm.).

STANDARD: Frankreich hat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien blockiert. Was ist das für ein Signal für den Westbalkan?

Vučić: Das Nein zu den EU-Verhandlungen wird in Serbien dazu führen, dass die EU noch unpopulärer wird und man weniger Vertrauen hat. Aber wie auch immer: Wir hoffen, dass Emmanuel Macron aus französischer Sicht für die Zukunft Europas eintritt. Doch wir kümmern uns um uns selbst. Wir müssen unsere Beziehungen in der Region lösen. Und wir haben auch gute Beziehungen zu China, Russland und der Türkei.

STANDARD: Also Plan B?

Vučić: Nein das ist kein Plan B, aber ich werde nicht zu weinen beginnen oder einen Hungerstreik vor den Gebäuden in Brüssel machen, um ein, zwei oder drei Kapitel zu öffnen. Ich bin kein Träumer, sondern sehr rational.

STANDARD: Was war die wichtigste Reform in den vergangenen fünf Jahren in Serbien?

Vučić: Als ich Premier wurde, lag das Durchschnittseinkommen bei 329 Euro netto, nun liegt es bei 510 Euro. Wir sind noch immer ein sehr armes Land, aber wir haben jetzt Bosnien-Herzegowina überholt, und wir werden Montenegro überholen. Und wir haben das vierte Jahr in Folge einen Haushaltsüberschuss.

STANDARD: Wann werden die Leute, die gerade aus ökonomischen Gründen den Balkan verlassen, wieder zurückkehren?

Vučić: Die estnische Präsidentin hat mir erzählt, dass 50 Prozent der Bevölkerung Estland verlassen hatte. Diese Leute begannen wieder zurückzukommen, als die Durchschnittslöhne auf 1.100 Euro stiegen. Wir haben nun bestimmte Maßnahmen für Ärzte und Krankenhauspersonal eingeführt. Die Löhne für die Pflegekräfte wurden um 15 Prozent angehoben.

STANDARD: Weil sie sonst nach Deutschland gehen.

Vučić: Ja, ich habe darüber mit dem deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn geredet. Er hat zu mir gesagt, dass er in mein Land käme, weil er mehr Pflegekräfte brauche. Ich habe zu ihm gesagt: Kommen Sie mir nicht damit!

STANDARD: Erkennt man in Berlin, dass es negative Konsequenzen hat, wenn so viele Pflegekräfte nach Deutschland gehen?

Vučić: Ja natürlich, aber die kümmern sich um ihre eigenen Interessen. Deshalb kümmern wir uns um uns. Die kümmern sich nicht um uns.

STANDARD: Für die EU sind die Kapitel 23 und 24 des EU-Rechts, bei denen es um Rechtsstaatlichkeit geht, prioritär. Sie haben versucht, die Verfassung zu ändern, um die Unabhängigkeit der Gerichte zu verbessern, aber das ist nicht gelungen.

Vučić: Wir werden das durchführen. Aber wir müssen sehen, was wir mit dem Kosovo machen. Denn für beide Themen braucht es ein Referendum, um die Verfassung zu ändern, und wir können nicht zwei Referenden in einem Jahr machen. Für ein erfolgreiches Referendum bedarf es einer Beteiligung von über 50 Prozent. Für ein Referendum zu der Justizreform würden aber nur zwei bis drei Prozent der Wähler kommen.

STANDARD: Bislang ist Kosovo als Bestandteil Serbiens in der Verfassung festgeschrieben. Also ist doch eine diesbezügliche Änderung und ein Abkommen möglich?

Vučić: Ich werde mein Bestes tun, um so ein Abkommen zu bekommen. Denn das wird die Zukunft dieser Nation sichern. Was mich beschäftigt, ist, was in 30 oder 40 Jahren in den Geschichtsbüchern stehen wird.

STANDARD: Im März finden Parlamentswahlen statt. Ist der Klimawandel ein Thema?

Vučić: Nein, überhaupt nicht. Die Leute hier in Serbien haben tausendmal größere Probleme als den Klimawandel.

STANDARD: Sie haben Herrn Handke zum Nobelpreis gratuliert. Kennen Sie ihn?

Vučić: Ich habe ihn nie noch getroffen, also habe ich ihn nun angerufen und ihm gratuliert. Nun habe ich mir die Bücher besorgt, die er geschrieben hat, und ich würde sie gerne lesen, bevor er nach Serbien kommt.

STANDARD: Plant er, hierher zukommen?

Vučić: Ja, er wird sehr bald mein Gast sein, und ich bin sehr stolz darauf. Er hat gezeigt, wie sich Intellektuelle verhalten sollen. Er hat während der Krise im früheren Jugoslawien in einer sehr moralischen Art und Weise gehandelt. Er war anders als alle anderen. Er hat wegen seiner politischen Haltungen viel verloren, aber das war ihm egal. Sein intellektueller Blick auf die Situation war ihm wichtiger als Geld oder sonst irgendetwas. In Frankreich und anderen Ländern wurden seine Stücke vom Spielplan gestrichen. Aber er hat seine Position nicht verändert. Daran sehen wir, dass es sich um einen sehr starken Mann handelt, der sich traut, das zu sagen, was er denkt, und der sich um die moralische Glaubwürdigkeit kümmert, abgesehen davon, welche seiner Haltungen wir nun mögen oder nicht.

STANDARD: Denken Sie, dass er mit seinen Positionen recht hatte?

Vučić: Darüber werde ich nicht reden. Er hatte aus seiner Sicht recht. Aber wenn Sie mich über Milošević fragen, dann wäre meine Frage: Wie hat er Dinge berechnet? Schließlich haben wir die größte Anzahl an Leuten verloren, unser Land zerstört, und jetzt haben wir gerade erst das Ausmaß des Bruttosozialprodukts erreicht, das wir 1990 hatten. Wir haben also 30 Jahre verloren. War das seine Schuld oder der Fehler der anderen? Ich denke, dass es sehr stark die Schuld der anderen war, aber auch seine Fehleinschätzung und auch unsere Schuld. So denkt auch jeder andere in Serbien. Aber Handke hatte absolut recht, wenn es um die Rolle der westlichen Staaten ging. Es war absolut vermeidbar, dieses Land zu bombardieren.

STANDARD: Sein erstes Buch zu dieser Region war zum Bosnien-Krieg, obwohl er damals gar nicht in Bosnien war, sondern in Serbien.

Vučić: Es ging um das Auseinanderfallen Jugoslawiens. Und ich glaube nicht, dass das Serbien Schuld oder nur Serbiens Schuld war. Die Internationale Gemeinschaft hat etwas zugelassen.

STANDARD: In diesem Prozess gab es auch Referenden.

Vučić: Und warum erlaubt man nicht heute so ein Referendum in der Republika Srpska?

STANDARD: Weil die Republika Srpska keine Republik im ehemaligen Jugoslawien war.

Vučić: Ich kenne die Realitäten, ich versuche dieses Land in einer pragmatischen Art und Weise zu führen und der EU anzunähern. Ich träume nicht davon, in zwei, drei Jahren beitreten können. Aber die Serben sind die einzigen, die kein Recht auf Selbstbestimmung haben. Es macht die Serben zornig, wenn sie hören, dass die anderen alles nach internationalen Standards gemacht haben, aber wenn sie selbst um etwas bitten, wird für sie kein "sui generis" Fall gemacht. Die Kosovo-Albaner hatten das Recht einen zweiten albanischen Staat in Europa zu gründen.

STANDARD: Kosovo ist der Verfassung zufolge kein albanischer Staat.

Vučić: Wo haben Sie im Kosovo abgesehen von den kosovarischen Institutionen die kosovarische Flagge gesehen?

STANDARD: Man kann sie in den Strassen Prishtinas sehen.

Vučić: Man kann sie nur auf öffentlichen Gebäuden sehen.

STANDARD: Nein, die verkaufen diese Flaggen an jeder Strassenecke. Wenn ich in den Kosovo komme, dann spreche ich mit den Leuten Serbisch.

Vučić: Und die mögen Sie?

STANDARD: Vor ein paar Jahren war das noch nicht so möglich, aber es wird besser.

Vučić: Die Leute wissen aber, dass Sie keine Serbin sind. Es ist nett mit Ihnen zu reden, weil Sie eine romantische Person sind. Aber die wollen nur einen albanischen Staat machen.

STANDARD: Manche, aber nicht alle.

Vučić: Alle. (Adelheid Wölfl aus Belgrad, 21.10.2019)