Proteste am Wochenende auf der Place de la République in Paris. Auf einem der Plakate ist zu lesen: "Fass mein Kopftuch nicht an."

Foto: AFP/DOMINIQUE FAGET

"Le voile" – ein Reizwort meldet sich zurück. 15 Jahre nach dem Verbot des islamischen Kopftuchs an Schulen und in öffentlichen Gebäuden bricht die Debatte mit unverminderter Schärfe aus, als wäre in dieser hochsymbolischen und -politischen Frage nichts geregelt.

Den neuesten Funken zündete ein 34-jähriger Lokalpolitiker des Rassemblement National (RN) in der sonst so bedächtigen burgundischen Hauptstadt Dijon. Zu Beginn einer Sitzung im Regionalparlament verlangte Julien Odoul, dass eine Frau im Publikum den Sitzungssaal verlasse, weil sie einen schwarzen "voile" (Kopfschleier) trage. Die sozialistische Ratsvorsitzende lehnte dies ab, worauf die RN-Vertreter ihrerseits den Saal verließen. Auch die Frau zog sich zurück – um jetzt Gerichtsklage wegen "rassistisch motivierter Gewalt" einzureichen.

Seither ist wieder einmal Feuer auf dem laizistischen Dach Frankreichs. Vordergründig dreht sich die Debatte um die Frage, ob das Schleierverbot über das Unterrichtszimmer hinaus auch auf Schulausflügen gilt. Die Frau mit dem Kopftuch war nämlich als Mutter eines der Kinder Teil einer Schulexkursion.

Ausweiskontrolle eskalierte

Die Frage bot aber nur einen Anlass für zahlreiche Zwischenfälle, die sich in den Banlieue-Siedlungen mehren. Am Wochenende hielten Polizisten in L'Île-Saint-Denis nachts eine Autofahrerin an, die jede Ausweiskontrolle verweigerte. Die Lage eskalierte, als die Frau behauptete, sie werde wegen ihres Kopftuchs verfolgt. Anwohner rückten mit einem Kampfhund an, den die Polizisten erschossen. Daraufhin habe die Frau "terrorverherrlichende" Äußerungen von sich gegeben, hielt die Präfektur später fest.

Alles wegen des Kopftuchs? Die ungewöhnliche Aggressivität der Zusammenstöße lässt sich auf das Messerattentat von Anfang Oktober in der Pariser Präfektur zurückführen, bei dem vier Menschen starben. Viele Franzosen fragen sich weiterhin, wie ein Polizeifunktionär unerkannt dem Jihad anheimfallen konnte, nachdem er zum Islam konvertiert war, salafistische Moscheen besucht und in der Freizeit Djellabas angezogen hatte. Und was dagegen zu tun wäre.

"Bart ohne Schnurrbart"

Die Antworten fallen eher hilflos aus. Innenminister Christophe Castaner versuchte Zeichen einer potenziellen Radikalisierung aufzuzählen und nannte "das regelmäßige und zur Schau gestellte Beten oder die gesteigerte Religionsausübung in der Ramadan-Zeit". Im Pariser Vorort Cergy-Pontoise gab die Universität ein Rundschreiben heraus, das Beispiele auflistete: etwa wenn Männer einen "Bart ohne Schnurrbart" wachsen ließen oder Frauen "neuerdings ein Kopftuch" anlegten.

Die Liste ist mittlerweile zurückgezogen, ein Uni-Direktor räumte ein, das Kopftuch sei kaum das geeignete Objekt für die Früherkennung einer Radikalisierung. Ein Politikum bleibt das ominöse Stück Stoff allemal.

RN-Chefin Marine Le Pen verlangte am Wochenende ein komplettes Kopftuchverbot im öffentlichen Raum, also auch außerhalb der Schulen und Ämter. Republikanerchef Bruno Retailleau bezeichnet das Kopftuch als eine "politische Provokation". Im Visier hat er nicht zuletzt die Union der demokratischen Muslime Frankreichs (UDMF), die bei den letzten Europawahlen 0,15 Prozent erzielt hat. Auch fragte der konservative Senator, warum sich Kopftuchträgerinnen nie vom Islamisten abgrenzten oder ihn gar kritisierten.

Mediale Ausgrenzung

Die linke Zeitung "Libération" antwortete darauf, die Muslime in Frankreich erhielten gar keine Gelegenheit dazu. Das Blatt prüfte die 286 Gäste der insgesamt 85 jüngsten Talkshows französischer Fernsehsender zum Thema Kopftuch und stellte fest, dass darunter keine einzige Frau mit Kopftuch war. Der Befund ließe sich auf die ganze Banlieue-Problematik anwenden: Darüber diskutieren im Fernsehen wortreich Experten und Politiker, aber sehr selten die betroffenen Anwohner. Die gesellschaftliche "Sezession", die Le Pen den Muslimen in den Vorstadtghettos vorhält, ist auch eine Folge von deren medialer Ausgrenzung.

Ein Kollektiv von 90 Forschern und Künstlern wie Schauspieler Omar Sy geht noch weiter und unterstellt der französischen Gesellschaft einen regelrechten "Hass auf Muslime". Dagegen müsse der Staatspräsident das Wort ergreifen, meinen sie. Emmanuel Macron selbst hat allerdings seine Wortwahl verschärft und nach dem Messerattentat die "islamistische Hydra" verurteilt. Von Journalisten darauf angesprochen, verurteilte er schließlich die Stigmatisierung einer ganzen Religionsgemeinschaft und die "fatale Vermengung" von Islam und Terrorismus. Dabei machte er auch klar, dass er die Kopftuchdebatte nicht zusätzlich anheizen wolle. Sie ist auch so schon genug erhitzt. (Stefan Brändle aus Paris, 22.10.2019)