Im Gastkommentar weist Historiker Dieter Reinisch auf die angespannte Lage im Brexit-Land, speziell in Nordirland, hin, wo die Rufe nach einer Abstimmung über die Wiedervereinigung Irlands lauter werden.

Seit dem Beginn der Brexit-Verhandlungen ist die Frage des zukünftigen Status Nordirlands umstritten. Während die südliche Republik ein EU-Mitglied ist, wird die britische Provinz am 31. Oktober oder später – vielleicht – die EU verlassen. Dann wird sich durch die irische Insel die einzige Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ziehen.

Eine EU-Außengrenze verlangt Waren- und Personengrenzen innerhalb Irlands. Aufgrund der engen wirtschaftlichen Verknüpfungen von Nordirland mit der Republik Irland und der brisanten nahen Vergangenheit soll eine befestigte, sogenannte harte Grenze unter allen Umständen verhindert werden. In Nordirland tobte 30 Jahre lang, bis 1998, zwischen irischen Nationalisten, die eine Wiedervereinigung mit der Republik anstrebten, und der pro-britischen, unionistischen Mehrheitsbevölkerung ein blutiger Krieg, dem mehr als 3.500 Menschen zum Opfer fielen.

Ein paramilitärisches Wandgemälde in der Belfaster Shankill Road, einem Zentrum der Unionisten.
Foto: APA/AFP/PAUL FAITH

Umstrittener Backstop

Theresa May hatte den "Irish Backstop" mit Brüssel ausverhandelt – eine Rückversicherung, durch die eine bewachte Grenze verhindert werden sollte. Ihr Austrittsabkommen wurde bekanntlich vom Parlament abgelehnt, und der neue britische Premier Boris Johnson war zunächst entschiedener Gegner des Backstop. Sein neues Abkommen sieht aber eine ähnliche Lösung vor: Nordirland soll anders als der Rest des Königreichs behandelt werden.

Die May-Regierung wurde von der ultrakonservativen nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) gestützt. Aus DUP-Sicht dürfe Nordirland nicht anders als der Rest des Königreichs behandelt werden, es dürfe keine Grenze durch die Irische See geben. Schließlich sei Nordirland, wie Margaret Thatcher bereits betonte, "so britisch wie Finchley". Doch genau dieser Sonderstatus würde kommen, wenn das von Johnson mit der EU ausverhandelte Abkommen umgesetzt wird.

Rufe nach Wiedervereinigung Irlands

In den vergangenen Monaten hat die DUP schrittweise ihre Position geändert. Sie sieht eine neue Gefahr heraufziehen. Lord Jonathan Caine, Berater von fünf konservativen Staatssekretären für Nordirland, brachte es in der "Irish News" auf den Punkt: "Ein vereinigtes Irland wird bei einem No-Deal-Brexit wahrscheinlicher." Die Rufe nach einer Abstimmung über die Wiedervereinigung Irlands nach dem Brexit werden jedenfalls lauter. Die größte katholische Partei in Nordirland, Sinn Féin, wirbt offen dafür.

Die Möglichkeit einer solchen Abstimmung ist im Karfreitagsabkommen, dem Friedensvertrag von 1998, festgeschrieben. Laut der "Life and Times Survey" sehen sich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung nicht als unionistisch oder nationalistisch. Gar nur 26 Prozent sehen sich als eindeutige Befürworter der Union mit Großbritannien. Im Falle eines No-Deal-Brexits wird erwartet, dass viele gemäßigte Unionisten eine Wiedervereinigung unterstützen könnten, um so Nordirland zurück in die EU zu bringen. Die Debatten um eine Abstimmung, gleich wie realistisch oder unrealistisch diese ist, werden in den kommenden Monaten zunehmen.

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"Zeit für die Einheit": ein Plakat nahe der Grenze von Irland und Nordirland.
Foto: AP/Peter Morrison

Neuer Konflikt droht

Diese Debatten bieten Gefahren für den fragilen Frieden. Radikale probritische Loyalisten sind bereit, mittels Gewalt gegen jegliches Aufweichen der britischen Identität Nordirlands vorzugehen. Als 2012 der Belfaster Stadtrat beschloss, den britischen Union Jack nicht mehr täglich zu hissen, kam es zu wochenlangen gewaltsamen Protesten, angeführt von Mitgliedern loyalistischer Paramilitärs wie der Ulster Volunteer Force (UVF).

Der Loyalist Jamie Bryson, Herausgeber der einflussreichen "Unionist Voice", erklärte im "Belfast Telegraph", dass die UVF die Entwicklungen um den Brexit "sehr genau verfolge und die notwendigen Schritte setzen" werde. Sein Kommentar wird von Beobachtern als Drohung interpretiert: Wenn es zu einem nordirischen Sonderstatus kommt oder gar zu einem Wiedervereinigungsreferendum, werden Loyalisten zu den Waffen greifen.

Enge Beziehungen

Die DUP hat historisch enge Beziehungen zu den Paramilitärs. Erst kürzlich veröffentlichte "BBC Spotlight" Bildmaterial, das belegt, wie führende DUP-Politiker am Aufbau der Ulster-Resistance-Paramilitärs, die mit südafrikanischen und israelischen Waffen ausgestattet wurden, beteiligt waren. Tage vor der letztwöchigen Brexit-Abstimmung kam es zu einem Treffen von DUP-Politikern mit Vertretern der loyalistischen Paramilitärs von UVF und der Ulster Defence Association (UDA).

UVF/UDA üben Druck auf die DUP aus, denn für sie führe der Johnson-Deal zu einer "wirtschaftlichen Wiedervereinigung Irlands". Der Londoner "Times" erklärten UVF-Vertreter, wenn es zu einem Sonderstatus für Nordirland komme, werde es Straßenproteste geben. Der bekannte Loyalist Robert Girvan ging noch weiter: "Dann wird es Bomben in (süd)irischen Städten geben."

"Blutrote Linie"

1974 zündete die UVF Autobomben in Dublin. 27 Menschen starben, mehr als 300 wurden verletzt. Heute hat die Organisation immer noch tausende Mitglieder und kontrolliert weite Stadtteile in Ostbelfast und entlang der Küsten im Norden und Osten.

Ein nordirischer Sonderstatus wurde von der DUP-Vorsitzenden Arlene Foster einst als "blutrote Linie" bezeichnet. Der harten Haltung der DUP gegen den Brexit-Deal von Johnson wird aufgrund des starken Einflusses von Paramilitärs nicht nachgegeben werden können.

Arlene Forsters DUP stimmt Boris Johnsons neuem Brexit-Deal nicht zu.
FotoS: APA/AFP7ISABEL INFANTES/CHARLES MCQUILLAN

Fragiler Frieden

Die größte Gefahr für einen neuen Gewaltausbruch nach dem Brexit geht von den probritischen Loyalisten aus, nicht von radikalen Republikanern, wie in den europäischen Medien prophezeit. Dennoch besteht auf republikanischer Seite ebenso ein Gewaltpotenzial. Am 19. August verübte eine IRA-Gruppe einen Anschlag auf die Polizei nahe der Grenze. Verletzt wurde niemand.

Die Anschläge der IRA werden unabhängig vom Ausgang des Brexits weitergehen. Republikaner kämpfen nicht gegen eine harte Grenze, sondern für die Wiedervereinigung, ungeachtet des Brexit-Ausgangs. Der Brexit birgt jedoch die Gefahr, dass auch die loyalistische Gegenseite wieder zu den Waffen greifen wird – im Norden wie in der Republik. (Dieter Reinisch, 21.10.2019)