Bei Protesten am Wochenende waren in Santiago de Chile 9400 Soldaten im Einsatz. Insgesamt gab es bisher nach Angaben der Staatsanwaltschaft 1554 Festnahmen.

Foto: AFP / Claudio Reyes

Wir sind im Krieg gegen einen übermächtigen Feind", sagte Präsident Sebastián Piñera am Sonntagabend, umrundet vom chilenischen Generalstab in Olivgrün. Die Bilder aus dem südamerikanischen Land wecken in der Tat diese Assoziation: Autowracks, geplünderte Supermärkte, ausgebrannte U-Bahn-Stationen, geschlossene Geschäfte, Panzer auf den Straßen und schwerbewaffnete Soldaten. Die Bilanz bis Montagfrüh: elf Tote. Seit einigen Tagen steht das einstige Musterland Südamerikas Kopf. Begonnen hat es vor einer Woche als Schülerprotest gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Preise um umgerechnet vier Cent. Nicht viel, so scheint es, doch damit kostet ein Ticket bis zu einem Euro – bei einem Mindestlohn von umgerechnet 378 Euro.

Auch vor der chilenischen Botschaft in Wien wurde am Montag demonstriert.
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Die Proteste der Schüler, die unter anderem en masse, ohne zu zahlen, die Drehkreuze passierten, und die brutale Antwort der Sicherheitskräfte darauf, traten eine Lawine los. Sicherheitsminister Andrés Chadwick verkündete die Anwendung des Antiterrorgesetzes. Das international kritisierte Gesetz wurde bislang vor allem gegen die indigene Minderheit der Mapuche angewendet und setzt rechtsstaatliche Garantien außer Kraft. "Wir machen uns große Sorgen um die jungen Demonstranten", sagte Ombudsfrau Patricia Muñoz.

Schwelender Missmut

Bald aber schlossen sich all diejenigen den Protesten an, die seit langem mit dem neoliberalen Modell hadern: Rentner, deren Pension kein würdiges Auskommen erlaubt; Kranke, die sich keine teuren Medikamente leisten können; Studenten, die sich für ein Studium verschulden müssen; Angestellte und Arbeiter, deren Lohn nicht bis zum Monatsende reicht und die oft zwei Jobs haben. In die friedlichen Proteste mischten sich rasch radikale Gruppen und Vandalen. "So explodierte der lange schwelende Missmut über die Elite", sagte der Jesuitenpfarrer Felipe Berríos.

Dass Piñera eine Ausgangssperre und den Ausnahmezustand verhängte und Panzer und Soldaten vor dem Präsidentenpalast aufmarschierten wie beim Militärputsch 1973, goss zusätzlich Öl ins Feuer. Obwohl Piñera am Freitag die Preiserhöhung rückgängig machte, griffen am Wochenende die Proteste in der Hauptstadt auch auf Viertel der oberen Mittelschicht über. Auch aus Provinzstädten wie Valparaíso oder Concepción wurden Ausschreitungen und Plünderungen gemeldet.

Videobilder aus der Hauptstadt Santiago de Chile
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Rechtes Lager beschuldigt Kuba

Das rechte Lager sah darin einen linken Umsturzversuch: "Die Kubaner haben ihre kommunistischen Bluthunde von der Leine gelassen und sie dem lateinamerikanischen Liberalismus auf den Hals gejagt", schrieb Antonio Sánchez im ultrarechten Portal Panam Post. Linke Aktivisten hingegen sehen einen "Selbstputsch Piñeras, um das neoliberale Modell zu retten".

Chile ist zwar Mitglied im Klub der reichen Industrieländer, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kooperation (OECD), und hat das höchste Durchschnittseinkommen in Lateinamerika, sticht aber durch enorme soziale Ungleichheit hervor. Der Millionär Piñera hat alles daran gesetzt, Steuern und Auflagen für Unternehmen zu senken und Proteste zu kriminalisieren. Oligopole ziehen regelmäßig Verbraucher über den Tisch, Korruptionsskandale und Vetternwirtschaft haben den Glauben der Chilenen in ihre Politiker und ihre Sicherheitskräfte erodiert. Piñera hat für diese Woche zu einem runden Tisch aufgerufen und hofft, die Lage dadurch zu beruhigen. (22.10.2019)