Das Unterhaus zeigte Boris Johnson die kalte Schulter.

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Der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage beträgt 15 Minuten. So lang konnte Boris Johnson hoffen – obwohl er es als alter Polit-Fuchs wahrscheinlich eh nicht tat: Es war am Dienstagabend die Zeitspanne zwischen erfolgreicher Abstimmung für seinen Brexit-Deal und der harschen Ablehnung des von ihm starrsinnig geforderten Zeitplans.

Und dieser hatte es in sich: Statt der üblichen drei Wochen hätten die Parlamentarier aller Fraktionen bloß zwei, drei Tage Zeit bekommen, um seinen erst vor wenigen Tagen mit Brüssel vereinbarten Vertrag zu prüfen. Nein, das sei nicht seriös, da habe man ja länger Zeit, um eine Küche oder ein Sofa auszusuchen, schallte es ihm aus dem Plenum entgegen.

Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, vielleicht hätte Johnson seinen vollen Triumph auskosten und die Briten tatsächlich per 31. Oktober aus der EU führen können, wenn er das Parlament in den vergangenen Wochen und Monaten besser behandelt hätte.

Viele Reibungspunkte

Da war zum Beispiel die Brüskierung, das Unterhaus unmittelbar nach der parlamentarischen Sommerpause mit mehr als fadenscheinigen Argumenten gleich wieder in Zwangsurlaub zu schicken. Das wurde als Versuch aufgefasst, das Parlament de facto zu entmachten, damit es nicht dazwischenfunken kann, wenn Johnson den Brexit durchzieht – und zwar allein nach seinen Vorstellungen.

Da war zum Beispiel der immense Druck aufgrund der Androhung von Neuwahlen durch den Premier. Und das ist nicht nur in London so, dass kaum jemand, der selbst gerade ein Parlamentsmandat erhalten hat, riskieren möchte, es vor der Zeit schon wieder zu verlieren.

Da war zum Beispiel der harte Knüppel, den er auf jene Parteifreunde niederfahren ließ, die sich seiner Linie widersetzten und differenzierter debattieren wollten. Sie wurden kurzerhand aus der Fraktion ausgeschlossen und mit Wiederwahlverbot belegt. Erst als Johnson seine Felle davonschwimmen sah, streckte er ihnen wieder seine Hand entgegen. Zu spät.

Und da war nicht zuletzt die demonstrative Geringschätzung des Parlaments durch den Premier, der bei wichtigen Debatten – wie etwa bei jener am Montag – erst gar nicht im Unterhaus erschien, sondern seinen Brexit- und andere Minister als Auskunftspersonen für dringliche Anfragen vorschickte.

Sieg und Niederlage und ... ein Dilemma

Nun hat Johnson also zwar eine Mehrheit für seinen Deal bekommen, der tatsächlich gar nicht "seiner" ist, sondern jener, den Theresa May schon vor knapp einem Jahr unterzeichnet hat, versehen mit einigen eher kosmetischen Korrekturen – doch gleichzeitig prügelte das Unterhaus den Regierungschef für die Art und Weise des Umgangs, den er mit dem Parlament pflegt, indem es seinen Brexit-Zeitplan negierte.

Vielleicht hätte Boris Johnson alles billiger haben können, wenn er das Unterhaus stärker in seine Politik einbezogen hätte. Doch dafür ist es zu spät. Der Regierungschef muss sich jetzt gut überlegen, ob er seine Neuwahldrohung wahrmachen will. Denn dafür bräuchte er nicht nur eine einfache, sondern sogar eine Zweidrittelmehrheit. Und diese ist weit und breit nicht auszumachen – nicht mit diesem Parlament. Für verlässliche Mehrheiten bräuchte Johnson ein anderes Unterhaus, das er nicht ohne weiteres bekommt. Ein Dilemma. (Gianluca Wallisch, 23.10.2019)