Martin Essl hat eine Mission: Er will, dass er irgendwann nicht mehr gebraucht wird. Und er will, dass Menschen mit Behinderung genauso an der Gesellschaft teilhaben, genauso lernen und arbeiten wie jeder und jede andere auch. Dafür hat er 2008 das globale Netzwerk Zero Project gegründet, finanziert von der Essl Foundation. Dieses setzt sich für die Bildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung sowie Barrierefreiheit und ein selbstbestimmtes Leben ein.

Erfahrungen brachte Martin Essl bereits mit: Der Sohn des Baumax-Gründers Karlheinz Essl leitete jahrelang die Baumarktkette, wo nach eigenen Angaben über 250 Menschen mit Behinderung angestellt waren. Dieses Erfahrungswissen wollte er auch in sogenannten Unternehmensdialogen, veranstaltet von Zero Project, weitertragen: "Oft verstehen sich Sozialunternehmen und Unternehmer nicht." Er spreche mit seinem Projekt unter anderem von Unternehmer zu Unternehmer.Gehörlose und Autisten.

Besondere Fähigkeiten

Kürzlich fand ein solcher Dialog auch für die Elektrizitätswirtschaft statt. Vorgestellt werden dort nationale und internationale Innovationen, die zeigen, wie die Inklusion von behinderten Menschen im Unternehmen gelingen kann und welche Erfahrung die betroffenen Mitarbeiter gemacht haben. Zum Beispiel arbeitet der Energieerzeuger Verbund bereits mit Gehörlosen, die Energie Steiermark und EVN haben Menschen mit Autismus-Spektrum angestellt. "Diese Leute sind unglaublich stark im IT-Bereich, weil sie eine ausgeprägte Merkfähigkeit haben und sehr gut Muster in Zahlenreihen erkennen können", sagt Martin Essl. Hier arbeite man mit der dänischen Organisation Specialisterne zusammen. "Es ist wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Man kann viel von anderen Ländern lernen, und wir wollen in Österreich nicht mehr im Mittelmaß sein, sondern in zehn bis zwanzig Jahren ein Musterland".

Barrierefrei sollte die Norm sein, ist sie aber vielerorts noch nicht.
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Wichtig sei auch, dass Unternehmen behinderte Menschen als Kunden sehen, wie es etwa der deutsche Stromanbieter E.on macht. So wurden dessen Verträge in einfache Sprache übersetzt, sodass nicht von vornherein Kunden ausgeschlossen werden. "Auch das ist Barrierefreiheit", sagt Essl, der insbesondere hier auf eine "Win-win-win-Situation" verweist: "Wer Menschen mit Behinderung beschäftigt, kann auch Kunden mit Behinderung ansprechen. So bekommt man Fachkräfte, kann mit einem neuen Markt mehr Umsätze generieren und schafft einen menschlichen und gesellschaftlichen Nutzen."

Viel Überzeugungsarbeit

Bis Österreich zum Musterland wird, dürfte noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten sein: 15 Prozent der Menschen in Österreich haben eine Behinderung. Im Vorjahr waren laut Arbeitsmarktservice rund 56 Prozent der Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig oder suchten einen Job. Die allgemeine Erwerbsquote lag bei 77,1 Prozent. Und die Arbeitslosigkeit von Behinderten hat sich von 2007 bis 2017 mehr als verdoppelt.

Im Vorjahr waren 8,1 Prozent der begünstigt Behinderten beim AMS arbeitslos gemeldet. Essl sagt dazu: "Die Arbeitslosigkeit ist noch höher. Die Daten beziehen sich nur auf jene, die aktiv suchen. Wer nach drei Jahren erfolgloser Suche resigniert, fällt aus der Statistik." Und nur jedes fünfte österreichische Unternehmen erfülle laut Essl die vorgegebenen Beschäftigungsquoten: Ab 25 Angestellten muss eine begünstigt behinderte Person eingestellt werden. Passiert das nicht, müssen die Firmen Ausgleichszahlungen leisten.

Das heißt Essl naheliegenderweise nicht gut, kann es aber nachvollziehen: "Viele kaufen sich frei, weil das extrem schwierig ist bei uns. Um wen anzustellen, muss man in jedem Bundesland ein anderes Gesetz beachten."Verzicht auf Potenziale"Es ist enttäuschend, dass die meisten Politiker und Unternehmer auf diese wichtige Gruppe verzichten", sagt Essl. Auch, weil viele Mythen bestehen würden, etwa dass Menschen mit Behinderung keine gute Ausbildung hätten oder nicht fähig seien, ausgebildet zu werden oder zu arbeiten. Gerade in Zeiten eines Fachkräftemangels könne man nicht im Teich nach Potenzialen fischen und 15 Prozent des Teichs einfach nicht berücksichtigen. "Wenn ein Unternehmer Bedarf an Fachkräften hat, muss man den nehmen, der am besten passt – ob der jetzt behindert ist oder nicht, so what." Jene, die das bereits am besten umsetzten, "erkennen das nicht als Sozialprojekt, sondern sehen die Qualitäten der Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz." (Selina Thaler, 25.10.2019)