Vor knapp einem Jahr gab DER STANDARD im Artikel "Die Wölfe nähern sich Wien" Einblicke in den Bestand dieser Tierart in Österreich. Demnach leben hier aktuell 20 bis 25 Wölfe, wobei das erste Rudel 2016 im Waldviertel angesiedelt worden ist. Trotz der überschaubaren Anzahl jagen manchem Zeitgenossen seither Nachrichten von weltweiten Wolfsattacken einen Schauer über den Rücken. Ein besonders gruseliger Fall ereignete sich im August in Kanada, als ein US-Tourist von einem Wolf beim Campen aus seinem Zelt gezerrt worden sein soll.

Die kanadische Wildnis ist indes nicht der Wienerwald, und tatsächlich dürfte kaum je ein Wiener einen Wolf in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen, geschweige denn von ihm attackiert werden. Dieses Bild ergibt sich auch aus der Dokumentation des Wissenschaftlichen Diensts des deutschen Bundestags von 2018 zu Wolfsattacken in Europa, Russland, Asien und Nordamerika.

Nichtsdestotrotz gilt eine besondere Gefährdungslage sicherlich für Schafhirten, die dabei aber vor allem die berechtigte Sorge um ihre Herden umtreiben muss. Für die Hirten der Antike galt das in gleichem Maße, wohingegen der durchschnittliche antike Stadtbewohner vermutlich ebenfalls nur selten auf einen Wolf getroffen ist. Wie dramatisch Begegnungen zwischen Mensch und Raubtier allerdings ablaufen konnten, lässt sich beispielhaft für das südwestkleinasiatische Hochland während der römischen Kaiserzeit illustrieren.

In abgelegenen Gefilden des Römischen Reiches

Das Landleben hielt für die Menschen der Antike eine Vielzahl von Gefahren bereit, weshalb die schützenden Befestigungsmauern der Städte auch als regelrechte Trennlinie zwischen Zivilisation und Wildnis betrachtet wurden. Dabei galt dies für abgelegene und weniger erschlossene Gebiete naturgemäß viel stärker als für dichtbesiedelte. Eine solche eher abseitige Region innerhalb des Römischen Reiches bildete das dem Taurusgebirge zugehörige Hochland, das heute die Provinz Burdur in der südwestlichen Türkei ausmacht. In der Antike lag dieses Gebiet an der Nahtstelle verschiedener kultureller Zonen Kleinasiens und trug den Namen Kabalis beziehungsweise Kibyratis.

Die raue Berglandschaft der Kabalis/Kibyratis.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt

In diesem Hochland habe ich gemeinsam mit dem Wiener Althistoriker Thomas Corsten in den letzten Jahren Feldforschungen durchgeführt, worüber schon früher in diesem Blog berichtet worden ist. Dabei haben wir auch eine befestigte Anlage auf dem ausgedehnten Gipfelplateau eines Çaltepe genannten Hügels untersucht. Sie besteht neben einem kompakten Bereich mit einfachen Bauten aus großen Freiflächen, die von Bruchsteinmauern eingefasst sind, und ihre Interpretation bereitete uns zunächst einiges Kopfzerbrechen.

Çaltepe, Bruchsteinmauer eines befestigten Viehpferchs.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt

Ein Hirte, ein Wolfsangriff und ein Gelübde

Ebenfalls nicht auf Anhieb erschloss sich uns ein Ensemble aus Reliefs und einer Inschrift, das in einer Felswand unterhalb der befestigten Anlage eingemeißelt ist. Die zentrale Position nimmt eine Nische in Form eines kleinen Tempels ein, in der eine weibliche Gottheit thront. Sie ist durch eine beigefügte Inschrift als Meter Kadmene, eine lokale Variante der Mutter- und Naturgottheit sowie Herrin der Tiere, Kybele, bezeichnet, der gegenüber ein gewisser Hieron ein Gelübde eingelöst hat. Der Mann ist sicherlich in einer kleinen Büste oberhalb des Inschriftenfelds zu erkennen.

Welcher Art das Gelübde war, verrät der Text nicht, lässt sich aus den übrigen Reliefs aber herauslesen. So sind links und rechts der Nische zwei kleine Felder angebracht, in denen hochbeinige, an Hunde erinnernde Tiere dargestellt sind. Auf der rechten Seite findet sich zudem ein größeres Relief, das einen Mann in einem merkwürdigen Mantel zeigt, der mit einem Stock nach mindestens zwei Tieren derselben Spezies schlägt.

Çaltepe, Ensemble aus Felsreliefs mit thronender Meter Kadmene und Inschrift.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt

Den Schlüssel zum Verständnis der Szene bildet einerseits das Kleidungsstück, das sich anhand anderer Darstellungen als typischer Hirtenmantel aus Filz identifizieren lässt. Andererseits sind die hochbeinigen Tiere mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölfe zu deuten. In der großen Szene ist demnach ein Wolfsangriff zu erkennen, den ein Hirte, bei dem es sich wohl ebenfalls um Hieron handelt, mit seinem Stock abwehrt.

Damit offenbart sich der Inhalt des Gelübdes: Hieron dürfte während einer Wolfsattacke in höchster Not die Göttin um Beistand angerufen haben. Ob nun tatsächlich durch göttliche Hilfe oder eher mithilfe seines Stockes, der Hirte hat den Angriff jedenfalls überlebt und sein Gelübde durch eine Weihung und vermutlich ein großzügiges Opfer an Meter Kadmene erfüllt. Damit erschließt sich zuletzt auch der Hintergrund der befestigten Anlage oberhalb des kleinen Felsheiligtums. Wir dürften die Reste eines Hirtengehöfts mit befestigten Viehpferchen vor uns haben. Ob Hieron der Besitzer des Anwesens war oder dort nur als Hirte seinen Dienst versah, lässt sich jedoch nicht sagen.

Çaltepe, Felsrelief: Hieron wehrt die Wölfe ab.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt/I. Benda-Weber

Der Inbegriff des Tückischen

Dass solche Angriffe in der Antike keine Seltenheit darstellten, und das nicht nur in den Hochebenen des Taurusgebirges, dafür sprechen viele weitere Zeugnisse. Der Wolf taucht in literarischen Quellen als Inbegriff des Räubers von Ziegen und Schafen auf und wird oftmals als unversöhnlicher Feind der Hirten beschrieben. Dass er den Römern als dem Mars heiliges Tier galt und eng mit der Gründung Roms verbunden war, tat diesem negativen Image keinen Abbruch.

Der römische Autor Apuleius hat in einer "Räuberpistole", die unter dem Titel "Der goldene Esel" Bekanntheit erlangt hat, die Verhältnisse im ländlichen Thessalien (Griechenland) während des 2. Jh.s n. Chr. beschrieben. An einer Stelle dient ihm der Wolf zur Charakterisierung tückischen menschlichen Verhaltens. An anderer Stelle berichtet er davon, dass die Bewohner eines Dorfes Hunde zum Schutz vor Wölfen und Bären halten.

Der ebenfalls kaiserzeitliche Lexikograf Festus ergänzt dieses Bild durch das Detail, dass römische Jagdhunde bisweilen Halsbänder mit Eisenstacheln zur Wolfsabwehr trugen. Von dieser offensichtlich effektiven Schutzmaßnahme machen Hirten in Anatolien bei ihren Hunden (Kangals) bis in unsere Tage Gebrauch. Davon konnten wir uns selbst überzeugen, als wir während unserer Feldforschungen das eine oder andere Treffen mit diesen respekteinflößenden Tieren hatten. Das Halten von Kangals wird im Übrigen auch heute Schafhirten in Europa zum Schutz ihrer Herden empfohlen.

Kangal mit Stachelhalsband.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt

Ein anderes Opfer mit weniger Glück

Fehlte es in der Antike an solchen Hunden zur Abwehr und war der Einsatz des Stocks nicht vom selben Erfolg gekrönt wie bei Hieron, dann konnte ein Aufeinandertreffen von Mensch und Raubtier auch einen ganz anderen Ausgang nehmen. Davon künden Inschrift und Relief eines kaiserzeitlichen Grabsteins aus dem im kleinasiatischen Phrygien gelegenen Axylontal: Für einen jungen Mann namens Manes endete die Begegnung mit Wölfen nämlich tödlich. Handwerklich nicht besonders geschickt, dafür aber umso dramatischer stellt das Relief auf dem Grabstein seinen vergeblichen Kampf ums Überleben dar. Verzweifelt schwingt Manes noch seinen Stab, während zwei Wölfe zu seiner Rechten und zu seiner Linken an ihm hochsteigen. Ein dritter Wolf ist sogar auf seinen Kopf gesprungen.

Umzeichnung des Grabsteins des Manes.
Foto: ÖAW-ÖAI/Kibyratis-Projekt/I. Benda-Weber

Man hätte der Nachwelt wohl kaum eindringlicher die mitunter tödlichen Gefahren der Natur vor Augen führen können. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch für die Menschen der Antike mancher Mitmensch ungleich gefährlicher als der Wolf war. So sind viele Teile des südwestkleinasiatischen Berglandes für deutlich größere Probleme mit Räubern und regelrechten Briganten bekannt. Der Mensch also als Wolf des Menschen. Aber das ist eine andere Geschichte. (Oliver Hülden, 31.10.2019)