Etwa 2.300 Kinder werden zu Hause unterricht. Bei den meisten Familien dürfte es keine Probleme geben, doch manche Eltern nützen das System aus, um sich von der Außenwelt abzuschotten.

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Anja F.* glaubt, dass ihre Eltern das Beste für sie und ihre 18 Geschwister wollten. Trotzdem brauchte sie Jahre, bis sie sich von ihrer Kindheit so weit erholte, dass sie ein glückliches Leben führen konnte. Denn sie lebte völlig isoliert, zuerst in einer kleinen Gemeinde in Niederösterreich, später in Wien. Die religiöse Gedankenwelt des Vaters dominierte das Leben der ganzen Familie: Er sah sich als direkter Vermittler zwischen Gott und den Kindern. "Er dachte, nur er weiß, was die Wahrheit ist", sagt Frau F.

Es gab keine Uhr, kein Fernsehen und kein Radio. "Der Ablauf war bestimmt von schreienden Babys, die Hunger hatten und gewickelt werden wollten", sagt F. Immerzu präsent war die Angst vor Misshandlungen: davor, dass jemand Missfallen bei den Eltern auslöst, dass wieder wer verprügelt wird, auch Säuglinge. "Das war eine extreme psychische Anstrengung."

Chronikredakteurin Vanessa Gaigg im STANDARD-Podcast über die Gefahren des Hausunterrichts, Missbrauchsfälle und den Fall Anja F.

Jahrelange Therapie

Kontakt zur Außenwelt gab es nicht, denn F. durfte keine Schule besuchen. Sie und ihre Geschwister wurden abgemeldet. Die schulpflichtigen Kinder mussten sich alles im Selbststudium beibringen. Gelang das nicht, drohte körperliche Bestrafung. "Ich habe den häuslichen Unterricht vor allem als Gewalt erlebt", sagt F. "Unser Vater hat ihn verwendet, um ritualisierte Misshandlungen an uns auszuüben."

Das alles liegt lange zurück, Anja F. ist mittlerweile erwachsen. Nach vielen Jahren Therapie kann sie ein zufriedenes Leben führen. Als kürzlich bekannt wurde, dass ein 13-jähriges Mädchen in Niederösterreich an einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung starb, weil ihre Eltern aus religiösen Gründen mutmaßlich die Behandlung verweigert hatten, fühlte es sich für F. an, als hätten die Behörden, Jahrzehnte später, nichts dazugelernt. Denn in beiden Fällen wurden die Kinder von der Schule abgemeldet, und in beiden Fällen hatte das Jugendamt Kontakt zur Familie – lange ohne harte Konsequenzen für die Eltern. Zu einer ernsten Intervention samt Abnahme der schulpflichtigen Kinder kam es erst, als die älteren Geschwister die Eltern anzeigten. Da war F. bereits 15 Jahre alt.

Ihre Geschichte will F. im STANDARD und in der "Wiener Zeitung" öffentlich machen, um vor allem auf zwei Dinge hinzuweisen: Das System des häuslichen Unterrichts beinhalte "kinderrechtsverletzendes Potenzial" und gehöre deshalb reformiert. Und: Die Kinder- und Jugendhilfe müsse für Fälle wie diese besser gerüstet sein.

Prüfung einmal im Jahr

Melden Eltern ihre Kinder von der Schule ab, müssen sie keine Qualifikationen vorlegen. 2.320 Kinder waren es im Schuljahr 2017/18. Weil man keinen Grund angeben muss, wissen die Behörden nichts über die Beweggründe. In einigen Fällen dürften es vermutlich Kinder mit speziellen Bedürfnissen sein, für die die Eltern keine Chance im Regelschulsystem sehen. Aber es gibt auch andere Motivlagen, etwa dass man Kinder von Einflüssen aus der Schule fernhalten will.

Das Recht auf häuslichen Unterricht kommt aus der Zeit Maria Theresias und steht im Verfassungsrang. "Ein solches System, wo es an jeglichen Bedingungen fehlt, zieht natürlich Eltern an, die ihre eigenen Ideen durchsetzen wollen", sagt F. Einmal im Jahr müssen die Kinder per Externistenprüfung ihr fachliches Können nachweisen. Auch F. hat das damals ohne Probleme geschafft. "Kinder können geschlagen werden und trotzdem gute Noten schreiben", sagt sie.

Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk spricht von einem "antiquierten Regelsystem, das noch aus der Vorstellung des 19. Jahrhunderts kommt, wo adelige und großbürgerliche Familien in der Lage waren, sich Hauslehrer zu halten." Seiner Ansicht nach gehöre das "überdacht."

Die Möglichkeit, Kinder zu Hause zu unterrichten, müsse es weiterhin geben, findet F. Zuletzt auch deshalb, weil in so einem Rahmen oft innovative Methoden entwickelt würden. Es brauche aber eine Diskussion darüber, wie das Kindeswohl sichergestellt werde. Und eine solche will sie nun anstoßen: Sechzig Seiten voller Erfahrungsberichte und Anregungen hat F. an Parlamentarier und Behörden geschickt. "Bisher wurde das Problem einfach nicht ernst genug genommen."

Überschaubare Konsequenzen

Auch fachlich geschulte Sozialarbeiter müssten in die Entwicklung eines "qualitätssichernden Instrumentariums" involviert sein, sagt F. In beiden Fällen waren es Verwandte, die beim Jugendamt eine mögliche Gefährdung meldeten. Den Eltern der 13-Jährigen wurde auferlegt, mit dem Kind in ein Krankenhaus zu gehen, was auch geschah. Peter Rozsa, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe Niederösterreich, verteidigt das Vorgehen seiner Behörde: Das Kind habe beim Kontrollbesuch nach dem Krankenhausaufenthalt einen "sehr guten Eindruck" auf die Sozialarbeiterin gemacht. Das Spital habe das Jugendamt nicht über eine mögliche weitere Gefährdung informiert, sagt Rozsa. Dieser Darstellung widerspricht der Krankenanstaltenverbund, wie der "Falter" berichtet. Der tatsächliche Ablauf wird also noch zu klären sein.

Unangekündigte Besuche gebe es nur bei "akuter Gefährdungslage", sagt Rozsa. Da sei dann auch die Exekutive dabei, um notfalls die Tür aufzubrechen. Ansonsten will die Behörde darauf hinarbeiten, Vertrauen aufzubauen.

In jedem Fall dürfe es nicht zu einer Unterschätzung der Lage kommen, meint F., denn das Leben in einem Mikrokosmos sei durch eigene Gesetze geregelt. Das oberste Gebot sei, Einflüsse von außen abzuwehren. "Vor den Besuchen wurde uns ausnahmsweise der Kopf gewaschen, wir bekamen neue Kleidung, es wurde vorbereitet, wer was zu sagen hat." Kinder mit Spuren von Misshandlungen seien spazieren geschickt worden. Funk weist darauf hin, dass auch bei zu Hause unterrichteten Kindern die Verantwortung der Jugendwohlfahrt und der Gesundheitsbehörden "aufrecht bleibt."

Es müsse einen Mechanismus geben, der bei solchen Kindern sicherstellt, dass die "besten Absichten" der Eltern auch dem Wohl des Kindes entsprechen, sagt F. Denn nicht immer könnten sich diese selbst helfen: "Unser Glück war, dass wir zu 19. gewesen sind." (Vanessa Gaigg, 25.10.2019)

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.