Der Peso hat dramatisch an Wert verloren, die Inflation ist auf über 50 Prozent geklettert. In der Folge dürften die Argentinier ihren Präsidenten Mauricio Macri abwählen. Sie sind von seiner Politik enttäuscht.

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Wenn der Ökonom Rafael Flores seine Studenten an der Universität von Buenos Aires in die Geheimnisse der argentinischen Wirtschaft einweiht, greift er auf eine hypothetische Großmutter zurück: "Nehmen wir an, sie hätte im Jahr 1969 zehn Billionen Pesos im Garten vergraben", sagt der Wirtschaftswissenschafter dann und malt eine Zehn mit haufenweise Nullen an die Tafel. "Das waren damals 28,5 Milliarden US-Dollar. Wie viel wäre ihr Geld heute wert?" Ratlose Gesichter.

Die Antwort erfordert eine wirtschaftshistorische Doktorarbeit durch ein Labyrinth von Rezessionen, Defaults, Währungsumstellungen und Abwertungen. Das Ergebnis: einen Peso – mit einem Gegenwert von einem Eurocent.

Diese Übung erklärt, warum sich Ökonomen und Psychoanalytiker in Argentinien so großer Beliebtheit erfreuen: Der Peso und sein Gegenwert zum Dollar sind eine nationale Obsession. Kaum ein Argentinier, der nicht den Wechselkurs kennt oder Tipps geben kann, wie man sein Erspartes am besten in Sicherheit bringt.

Enge Verflechtung

Wirtschaft und Politik sind in Argentinien noch enger verflochten als anderswo. Und wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl am Sonntag stehen die Zeichen auf Sturm: Als Präsident Mauricio Macri, der sich zur Wiederwahl stellt, vor vier Jahren sein Amt antrat, kostete ein Dollar zehn Pesos, heute sind es 58, und die Inflation ist auf 53 Prozent geklettert. Dabei war der liberale Unternehmer angetreten, die Wirtschaft flott- und Argentinien wieder kreditwürdig zu machen. Er hat die staatlichen Kapitalverkehrskontrollen aufgehoben und versucht, die Subventionen seiner Vorgänger graduell zu streichen, um die Staatsfinanzen zu sanieren – doch die erhofften Investitionen blieben aus, und das Spekulationskapital zog bei den ersten Wolken wieder panisch ab. Macri blieb mit leeren Händen und einem hochverschuldeten Land zurück.

Das jüdische Viertel Once ist traditionell das Händlerzentrum der argentinischen Hauptstadt. Noch herrscht dort reges Treiben, doch der eine oder andere Laden hat die Schotten dicht gemacht. Im neunten Stock eines Bürgerhauses hat Adriana Rodríguez das Büro ihres Kleinverlags Almaluz. Die Sprecherin des Frauenverbands der klein- und mittelständischen Betriebe hatte große Hoffnungen in Macri gesetzt und ist heute bitter enttäuscht. "Vielen von uns hat die Wirtschaftspolitik das Genick gebrochen. Von einem auf den anderen Tag mussten wir 400 Prozent mehr für Strom bezahlen, doppelt so viel für Wasser, dazu die Inflation.

30 Unternehmen täglich

"Seit 2018 schließen 30 Unternehmen täglich" seufzt sie. "Macri hat auf internationale Anerkennung geschielt und den Bezug zur Realität verloren." Die Verlagsbranche – einer der Vorzeigesektoren – entließ 30 Prozent des Personals.

Noch ist Argentinien von den dramatischen Bildern der letzten Staatspleite entfernt, als Barrikaden brannten und aufgebrachte Sparer die Banken stürmten. Doch es herrscht latente Spannung in Erwartung der nächsten Krise. "Cambio, cambio", hört man heute wieder die Schwarzwechsler in der Fußgängerzone rufen – wie zu den Zeiten der Pleite von 2002.

Auch die Schlangen vor dem italienischen Konsulat sind wieder länger geworden, wo Argentinier mit italienischen Vorfahren für einen EU-Pass anstehen. "Ich sehe hier keine Zukunft", sagt Martín Méndez, 20-jähriger Agronomie-Student. "Macri ist das kleinere Übel, aber er hat nichts auf die Reihe gekriegt, und jetzt kommt vermutlich die andere Diebesbande wieder."

Damit meint er die Clique der wegen Korruption angeklagten Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Sie tritt am Sonntag als Vize an – vorgeschoben hat sie ihren juristisch unbescholtenen ehemaligen Kabinettsminister Alberto Fernández. Das Duo Fernández-Fernández entstammt der peronistischen Sammelbewegung.

Während Cristina den linkspopulistischen Flügel bedient, steht Alberto für eine eher pragmatische Sozialdemokratie. Vor allem aber sind die beiden im Gegensatz zu Macri und seinem Technokratenkabinett Vollblutpolitiker. Sie haben es geschafft, Provinzgouverneure, Gewerkschaften, staatliche Beamte, Kirchenleute und soziale Bewegungen auf ihre Seite zu ziehen.

Wie ein Rockstar

In seiner Kommandozentrale im Boheme-Viertel San Telmo geht es zu wie in einem Taubenschlag: Bittsteller aller Art stehen Schlange, manchmal empfängt der Juraprofessor Fernández einen Gouverneur, klimpert auf seiner Gitarre mit einem Rockstar für ein Instagram-Video – einen aufreibenden, klassischen Wahlkampf hat er nicht nötig.

Anders Amtsinhaber Macri. Der hat in den vergangenen Wochen das ganze Land bereist, jeden Tag ein Massenaufmarsch in einer anderen Stadt unter dem Slogan "Ja, wir schaffen es". Macri gibt sich kämpferisch, und während Fernández bereits staatsmännisch vor "schwierigen Zeiten" warnt, verspricht Macri populistisch das Blaue vom Himmel – von neuen Stipendien und Sozialhilfen bis zu Infrastrukturprojekten.

Und vor allem warnt er immer wieder vor der Korruption der Peronisten, vor ihrem Autoritarismus, ihrer Willkür. Menschenrechtler wie Graciela Fernández-Mejide geben ihm in diesem Punkt recht: "Macris Regierung hat Argentinien vor allem funktionierende Institutionen gebracht. Diese stehen nun auf dem Spiel." (Sandra Weiss aus Buenos Aires, 24.10.2019)