In diesem Kühlcontainer wurden die Leichen entdeckt.

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Am späten Nachmittag wurde der Lkw abtransportiert.

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DER STANDARD

Mitten in der fiebrigen Brexit-Debatte sind die Briten auf brutale Weise daran erinnert worden, dass die Politik auch bei anderen Themen gefordert ist. Am frühen Mittwochmorgen wurde der Rettungsdienst von Thurrock etwa 30 Kilometer östlich von London zu einem Industriegebiet gerufen. In einem dort abgestellten Lkw aus Bulgarien fanden die Sanitäter die Leichen von 39 Menschen. Die alarmierte Polizei nahm den 25-Jährigen Fahrer unter Mordverdacht fest. Premier Boris Johnson sprach von einer schrecklichen Tragödie, Innenministerin Priti Patel kündigte einen noch härteren Kampf gegen Menschenschmuggler an.

Sämtliche Insassen des cremefarbenen Kühlcontainers, 38 Erwachsene und ein Teenager, seien bereits tot gewesen, als man sie gefunden habe, teilte die stellvertretende Polizeipräsidentin von Essex, Pippa Mills, mit. Wer die Rettungskräfte alarmiert hatte, blieb bis zum Abend offen. Der festgenommene Fahrer stammt aus Nordirland. Am Abend wurde der Sattelschlepper in ein Kühlhaus des nahegelegenen Containerhafens Tilbury Docks gefahren, wo die Leichen geborgen und identifiziert werden sollen.

Der Container kam in der Nacht zum Mittwoch eine halbe Stunde nach Mitternacht mit einer Fähre aus dem belgischen Zeebrügge am Themse-Hafen Purfleet an. Gegen 1.05 Uhr soll das Zugfahrzeug den Container übernommen haben und weggefahren sein. Offenbar wurde die Fahrt von Bewachungskameras erfasst. Die Fundstelle liegt nur wenige Kilometer entfernt vom Hafen nahe der Londoner Ringautobahn M25.

58 tote Chinesen

Großbritannien hat immer wieder Tragödien mit Menschenschmuggel erlebt. Normalerweise konzentriert sich dieser auf die Häfen am Ärmelkanal sowie den 1993 eröffneten Tunnel zwischen Calais und Folkestone. Im Hafen von Dover kontrollierten Zollbeamte im Jahr 2000 einen vorgeblich mit Tomaten beladenen Lastzug aus Holland. In dem Kühlcontainer fanden sie zwei gerade noch lebende junge Männer und 58 Leichen, allesamt Chinesen.

Seit Beginn des Jahrhunderts hat das Land in Absprache mit Frankreich und den anderen Anrainern die Kontrollen in den Kanalhäfen verschärft. London hat im Hafen und dem Tunneleingang von Calais auch finanziell zur Sicherung der Anlagen beigetragen. Dennoch versuchen Flüchtlinge aus Afrika und Asien, auf rollende Lastwagen aufzuspringen oder sich unter Containern festzuklammern. Immer wieder kommen dabei junge Männer ums Leben.

Brexit-Einfluss

Experten für den organisierten Menschenschmuggel bei der nationalen Kriminalbehörde NCA wiesen im vergangenen Jahr darauf hin, dass Schlepperbanden vermehrt vom Ärmelkanal auf irische Häfen ausweichen. Durch den bevorstehenden Brexit sind die Fährverbindungen zwischen Cherbourg und Roscoff in Frankreich und dem südirischen Hafen Rosslare ausgebaut worden.

Von der Vernehmung des Fahrers verspricht sich die Sonderkommission nun Erkenntnisse über die letzte Reise sowie die Identität der 39 Toten. Im Unterhaus drückten viele Abgeordnete ihren Schock aus. Man wolle sich gar nicht genauer vorstellen, sagte Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn, welch schreckliche Szenen sich in dem Container abgespielt haben müssen. Labours innenpolitische Sprecherin Diane Abbott erinnerte daran, dass niemand auf der Suche nach einem besseren Leben seine Heimat leichten Herzens verlasse.

Schlauchboote im Kanal

Das konservative Kabinett verfolgt eine extrem rigide Asylpolitik. Man wolle Leute nicht dazu ermutigen, sich kriminellen Schleppern auszuliefern und große Gefahren auf sich zu nehmen, lautete das Regierungsargument.

In den vergangenen Wochen sorgten gelegentlich Schlauchboote im Ärmelkanal für Aufmerksamkeit, mit denen kleine Gruppen von Migranten die Überfahrt versuchten, quer durch eine der meistbefahrenen Schifffahrtsstraßen der Welt. Die meisten waren Syrer, Iraner oder Kurden. Das Innenministerium hat zur Abschreckung zwei Schiffe der Küstenwache vor Ort stationiert.

In Kent, etwa 60 Kilometer von Essex entfernt, hat die Polizei später am Mittwoch neun lebende Personen in einem Lastwagen auf der Autobahn entdeckt, berichtete Sky News. Diese würden vom Rettungsdienst versorgt, bevor sie an die Einwanderungsbehörde übergeben werden. (Sebastian Borger aus London, red, 23.10.2019)