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Naturwissenschafter haben es gut. Sie müssen – im Gegensatz zu ihren auf Wirtschaft spezialisierten Kollegen – nicht befürchten, dass sich die Schwerkraft plötzlich umkehrt.
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Eine vorübergehende Marktanomalie – so dachten die meisten Finanzexperten, nachdem vor etwas mehr als fünf Jahren die Rendite zweijähriger deutscher Bundesanleihen ins Minus abgerutscht war. Welch grundlegende Fehleinschätzung, denn die Zinswelt steht auch heute noch auf dem Kopf. Heuer lagen nicht nur deutsche Staatspapiere aller Laufzeiten bis zu 30 Jahren im Spätsommer im negativen Terrain. Insgesamt wiesen zu diesem Zeitpunkt weltweit Anleihen mit einem Gesamtvolumen von 15 Billionen Euro eine Negativrendite auf.

Wie kommt es dazu, dass so viele Investoren bereit sind, ein derart offensichtliches Verlustgeschäft abzuschließen? Mit dieser Frage haben sich die Experten der Schoellerbank auseinandergesetzt – und sind auf einige nachvollziehbare Ursachen für dieses vermeintlich absurde Phänomen gestoßen.

·EZB Der bedeutendste Käufer am europäischen Markt für Schuldverschreibungen ist zweifelsfrei die Europäische Zentralbank (EZB), bei deren Überlegungen Zinserträge keine Rolle spielen. Sie hat im Rahmen ihres ersten Anleihenkaufprogramms bis Ende des Vorjahres bereits 2,6 Billionen Euro in den Markt gepumpt und wird im November die zweite Auflage starten: Ab dann wird die EZB bis auf Weiteres monatlich wieder Anleihen um 20 Milliarden Euro erwerben. Und zwar um jeden Preis.

·Sicherheit Handelskonflikte, Brexit und geopolitische Spannungen – für Anleger, die eine Eskalation der Krisenherde befürchten, kann es durchaus sinnvoll sein, sich mit einer Art Versicherungsprämie, also der Negativrendite, gegen Krisenfälle abzusichern. "Die Rückzahlung des eingesetzten Kapitals hat für manche Investoren mittlerweile eine wesentlich höhere Priorität als die zu erwartende Rendite", erklärt Schoellerbank-Anleihenstratege Thomas Kößler.

·Spekulation Die vor etwa zwei Jahren emittierte 100-jährige Anleihe der Republik Österreich konnte ihr Kursniveau bis August mehr als verdoppeln, bevor der Kurs zuletzt korrigierte. Dieses Extrembeispiel zeigt, dass sich trotz hoher Notierungen mit Anleihen deutliche Kursgewinne erzielen lassen. Darauf spekulieren Kößler zufolge einige Investoren, wohl wissend, dass sie "überteuerte Assets kaufen". Zur Veranschaulichung zieht er die sogenannte Greater Fool Theory heran: Dahinter verbirgt sich die Erwartung der Anleger, zu einem späteren Zeitpunkt einen "größeren Dummkopf" zu finden, der eine Anleihe zu einem noch höheren Kurs kauft.

·Deflation Derzeit scheint angesichts eines Inflationsniveaus von etwa einem Prozent in der Eurozone die Gefahr einer Deflation, also sinkender Konsumentenpreise, gebannt. Allerdings könnte auch der langfristige Abwärtstrend bei der Inflation neuerlich einsetzen. Sobald eine Deflation stärker ausfällt als die Negativrenditen, würde dies für die Anleihenbesitzer zu Kaufkraftgewinnen führen.

·Regulierung Der Kauf von Staatsanleihen wird aufsichtsrechtlich begünstigt, weshalb viele institutionelle Anleger trotz negativer Renditen in diese Anlageklasse investieren. In der Bankenregulierung werden Staatsanleihen der Eurozone etwa mit einem Risiko von null taxiert. Pensionsfonds oder Lebensversicherer kaufen langlaufende Staatsanleihen zudem, um ihre langfristigen Zahlungsversprechen mit diesen zu unterlegen.

·Konsum Zudem bringt Kößler als theoretischen Ansatz veränderte Zeitpräferenzen ins Spiel. Grundsätzlich würden die meisten Menschen den Konsum in der Gegenwart jenem in der Zukunft vorziehen. Allerdings würde in alternden Industriegesellschaften eine gesicherte Altersvorsorge an Wert gewinnen. "Ein Euro in der Zukunft ist von größerem Wert als ein Euro in der Gegenwart", erklärt Kößler. Daher würden Anleger sogar einen negativen Zins akzeptieren, um die Kaufkraft als Altersvorsorge in die Zukunft zu verlagern.

Angesichts dieser Erklärungsansätze und der Prognose der EZB, das eigene Inflationsziel von knapp zwei Prozent bis 2022 nicht zu erreichen, dürfte das Phänomen negativer Zinsen und Renditen Anlegern und Sparern wohl noch einige Jahre erhalten bleiben. Wenn es nicht, wie es Japan bereits vorexerziert, zur Normalität wird. (Alexander Hahn, 26.10.2019)