Debbie Harry in jungen Jahren: Bis heute fühlt sie sich in ihrem Herzen als New Yorker Punk.

Foto: Heyne Hardcore / Privat

1982 war Debbie Harry pleite und ihr Freund und Bandkollege Chris Stein schwer krank. Seit sieben Jahren waren die beiden im Showbiz und hatten mit der Gruppe Blondie an die 40 Millionen Platten verkauft. Dennoch standen sie ohne Geld da, ohne Plattenvertrag, und demnächst sollten sie ihr Haus verlieren. "Alles, was wir im Hinblick auf das Geschäftliche falsch machen konnten, haben wir falsch gemacht", schreibt Debbie Harry in ihrer Autobiografie Face It. Was sich die Anwälte nicht unter den Nagel gerissen hatten, nahm sich die Steuerbehörde.

Doch Widrigkeiten begegnet Harry mit einer enormen Gelassenheit. Sogar als sie erzählt, wie sie nach einem Konzert in New York mit Chris Stein zu Hause ausgeraubt und vergewaltigt wurde. In ihren Memoiren hat sie der Verlust der Gitarre mehr geschmerzt als das, was ihr widerfahren ist. Harry verschwendet wenig Zeit darauf, Vergangenes zu hinterfragen – mit ein paar Ausnahmen.

Das Playboy Bunny

Debbie Harry ist einer der größten weiblichen Popstars ihrer Zeit. Jahre vor Madonna spielte sie bereits mit dem Image der selbstbewussten Verführerin. Die heute 74-Jährige wurde am 1. Juli 1945 geboren. Mit drei Monaten gab ihre leibliche Mutter sie weg, Harry wuchs als Adoptivkind auf. Als sie Jahrzehnte später ihrer Blutsverwandtschaft gegenüberstand, merkte sie, dass der Aufwand sich nicht wirklich gelohnt hatte, auch das nahm sie gelassen.

Klein Deborah Ann in New Jersey.
Foto: Privat

Als Teenager zog Deborah von New Jersey nach New York City. Sie arbeitete als Kellnerin, als Sekretärin oder als Playboy Bunny und ließ nichts aus, was die galoppierende Gegenkultur damals so bot, auch nicht Heroin. Sie lernte Berühmtheiten kennen, machte Bekanntschaft mit häuslicher Gewalt und Stalking – und zog nach L.A., wo sie sich rasch langweilte und wieder in ihr geliebtes New York zurückkehrte.

Im Epizentrum des Punk

Genau zur richtigen Zeit: In den 1970ern war sie Teil der sich in Richtung Punk bewegenden Subkultur der Lower East Side in New York. Hilly Kristals legendärer Club CBGB’s war eines ihrer Wohnzimmer. Sie war fasziniert von der "wilden Schönheit der heruntergekommenen dreckigen Stadt. Damals lag überall Müll herum, und man fand großartige Dinge, die Leute weggeworfen hatten, nahm sie auseinander und setzte die Teile mit Kreativität und Ironie als Kleber neu zusammen. Das war die Philosophie des Punk."

Einer von vielen unsterblichen Blondie-Hits: Dreaming.
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Im Schatten dieser Romantik wurde sie einmal von einem Autofahrer mitgenommen, von dem sie überzeugt ist, dass es sich dabei um den Serienmörder Ted Bundy gehandelt habe. An einer Kreuzung gelang es ihr irgendwie, aus dem Auto zu entkommen. Einem Faktencheck, und das schreibt sie, hält ihre Vermutung nicht stand, Bundy soll zu der Zeit nicht in New York gewesen sein.

Blondie begann ab 1974, sich in der Szene einen Namen zu machen. Die Band mit der kunstblonden Sängerin war Teil einer Familie, die aus Typen wie James Chance, den Ramones, den Talking Heads, Patti Smith, Television, Suicide und ähnlichen Nachtschattengewächsen bestand.

David Bowies Schniedel

Ihr Debütalbum erschien 1976 – und in den folgenden Jahren belegten Blondie mit Hitsingles wie Dreaming, Denis, The Tide is High, Rapture oder Atomic die Charts auf der ganzen Welt. Blondie tourten mit Iggy Pop und David Bowie, der ihr gegenüber einmal seinen "extrem großen Schwanz" rausholte. Irritiert war Harry deshalb nicht, nur davon, dass Iggy den seinen eingepackt ließ.

Harry blickte von Hochglanzmagazinen rund um den Globus: Ihr Freund Andy Warhol porträtierte sie, von einem anderen, Jean-Michel Basquiat, kaufte sie Bilder, um ihn zu fördern.

Debbie Harry vor einem Auftritt.
Foto: Dennis McGuire

Sie begann in den ersten von fast 50 Filmen mitzuwirken. Darunter sind Underground- und Short-Movies ebenso wie David Cronenbergs Videodrome, John Waters Hairspray oder Woody Allens New York Stories. Dass sie die weibliche Hauptrolle in Blade Runner übernahm, verhinderte ihre Plattenfirma.

Erfolgreiche Solokarriere

All das erzählt sie als Star, der scheinbar auf dem Boden geblieben ist, weil sie von den Umständen oft dorthin zurückgeholt wurde. Doch als gelernte New Yorkerin ist sie so cool wie zäh. Sie hat nie aufgegeben. Wenn ihr jemand gesagt hat, das schaffe sie nicht, hat sie sich jemanden gesucht, der an sie glaubte. So kam es zu einer erfolgreichen Solokarriere nach dem Ende von Blondie 1982 sowie zu der späteren Reunion, die die bis heute immens populäre Band in größeren Abständen immer noch um die Welt bringt.

Face It ist ein hübsches Zeitdokument über die Wurzeln des Punk und seiner vielen Triebe – einmal aus weiblicher Sicht. Und Blondie beweist, dass sie als Protagonistin das Herz einer Löwin hat – selbst wenn sie eines aus Glas besingt. (Karl Fluch, 24.10.2019)