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Eva Illouz trennt die Idee des menschlichen Wohlbefindens strikt von der geforderten "Kapitalisierung" des Selbst.

Foto: Hans Christian Plambeck / laif / picturedesk.com

Eva Illouz kann nicht ganz verbergen, dass sie lieber unbehelligt ihren Salat essen würde, als währenddessen Interviews zu geben. Sobald das Gespräch aber in Fahrt ist, ist die renommierte Soziologin so aufmerksam und scharfsinnig, wie man sie aus ihren Texten kennt. Ihr neuestes Buch, Das Glücksdiktat, das sie zusammen mit dem Psychologen Edgar Cabanas verfasst hat, gibt Anlass für ein Gespräch über das Glück in Zeiten des Kapitalismus.

STANDARD: Sie waren neben anderen Themen lange an den Mechanismen der Liebe interessiert und haben nun ein Buch über das Glück geschrieben. Was haben Glück und Liebe miteinander gemein?

Illouz: Ich interessiere mich generell für zeitgenössische Utopien und wie sie in der Konsumkultur wirksam werden. Die Konsumkultur nutzt Träume und Utopien, also moralische Werte, um unser Verlangen anzustacheln. Glück und Liebe sind solche emotionalen Utopien, die tief in das Gewebe des Kapitalismus hineinreichen.

STANDARD: Liebe und Glück wurden zu Waren. Aber welche Gefühle betrifft das nicht?

Illouz: Die meisten unserer Emotionen werden zu Waren gemacht: Trauer, Nostalgie, Entspannung, Stolz ... Es gibt aber Gefühle und Beziehungen, bei denen das weniger passiert. Freundschaft wird zu einer Ware gemacht, aber weniger stark als romantische Liebe und Sexualität, die fast ausschließlich dadurch definiert werden, wie gut sie sich in den Markt eingliedern lassen.

STANDARD: Wie sieht es mit dem Hass aus?

Illouz: Er wird zur Ware gemacht, wenn man eine breite Definition von Hass zulässt. Zum Beispiel war Punk eine Musik der Entrüstung, des Protests und des Hasses. Soziale Medien sind auch förderlich für die Artikulation von Hass, von negativen Gefühlen generell. In sozialen Medien leistet man affektive Arbeit für die Eigentümer dieser Medien. Hass ist eine der wesentlichen Emotionen, die in sozialen Medien zirkulieren.

STANDARD: Wenn fast alles zu einer Ware wird, wieso interessieren Sie sich gerade fürs Glück?

Illouz: Weil es das ist, was uns der Liberalismus verspricht. Glück ist, was uns diverse Waren versprechen. Außerdem denke ich, dass Glück wichtig ist für aktuelle Definitionen des "guten Lebens".

STANDARD: Menschen strebten immer nach Glück. Was hat sich durch den Einfluss der Positiven Psychologie geändert?

Illouz: Früher war Glück mit der Kultivierung von Tugenden verbunden. Man hat die Vision einer guten Gesellschaft nicht getrennt vom Glück betrachtet. Die Positive Psychologie dagegen sieht die Psyche als unabhängig an. Hier bedeutet Glück das Kultivieren von positiven Eigenschaften wie Optimismus und Belastbarkeit, nicht aber die Fähigkeit, die gerechte Sache zu verteidigen oder das Böse zu bekämpfen.

STANDARD: Im Deutschen sind "happiness" und "luck" dasselbe Wort. Die Positive Psychologie sieht das Glücklichsein aber nicht als Glückssache.

Illouz: Die Modelle des Glücks, die die Positive Psychologie anbietet, lassen keinen Raum für Zufälle oder Willkür. Sie möchte Ihnen beibringen, eine positive Person zu sein, die mit allen Katastrophen des Lebens umgehen kann. Es wird so getan, als läge es "allein in Ihrer Macht", Umstände für Ihr Wohlbefinden zu schaffen. Letztendlich bedeutet das die Umwandlung des Selbst in Kapital: Man muss sich zum Vermögenswert machen.

STANDARD: Die Positive Psychologie sieht einen Zusammenhang zwischen dem Glück eines Volkes und seinem Individualismus. Warum?

Illouz: Es ist eine amerikanische "Wissenschaft", und in Amerika ist Individualismus fast gleichbedeutend mit Moral. Wenn Sie eine moralische Person sind, verlassen Sie sich nur auf sich selbst. Warum ist denn diese "Wissenschaft" so neoliberal? Weil sie Ihnen die Kunst beibringen will, niemanden zu brauchen, am allerwenigsten den Staat. Im Freudianismus bestand die Idee darin, sich als Produkt seiner Eltern zu sehen. Die Positive Psychologie impliziert, dass Sie selbst voll verantwortlich sind. Es geht um Individualismus im Sinn von Eigenverantwortlichkeit.

STANDARD: Geht Glück im Kapitalismus immer auf Kosten anderer?

Illouz: Das Herzstück des amerikanischen Traums fußt auf einem Betrug. Er basiert auf dem Versprechen, dass man es nach oben schafft, wenn man nur hart arbeitet. Aber wir können nicht alle an der Spitze sein. "Die Spitze" kann per definitionem nur eine begrenzte Anzahl von Personen umfassen. In gewisser Weise also ja: Ungleichheiten sind nicht nur sozial und wirtschaftlich bedingt, sie betreffen das Glück. Die Vorstellung, dass die Armen arm, aber glücklich sind, ist ein herziger Mythos. Glück hängt von Ressourcen ab. Und die neue Psychologie des Glücks möchte, dass wir glauben, dass es nichts mit materiellen Ressourcen zu tun hat.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Entwicklung des modernen Kapitalismus in naher Zukunft ein?

Illouz: Es muss Veränderungen geben: Höhere Besteuerung für die Reichen, Besteuerung für die GAFA-Unternehmen und so weiter. Die Auswirkungen des Kapitalismus sind heute durchwegs auch politisch. Alle Formen des Populismus sind durch die Ausweitung des Kapitalismus miteinander verbunden. Die aktuellen Tendenzen werden sich verstärken: Automatisierung und Technologie werden den Platz der Menschen einnehmen, das bewirkt eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele. Die Lage kann jederzeit explodieren.

STANDARD: Wie können wir uns eine Welt nach dem Neoliberalismus vorstellen?

Illouz: Das bedeutet, sich kooperative Lebensformen vorzustellen, Unternehmen in hohem Maße haftbar zu machen, die Familie auf der Grundlage der Gleichheit zu organisieren und ein gewisses Maß an Ungleichheit nicht zu akzeptieren.

STANDARD: Wie kommen wir da hin?

Illouz: Ich denke, was uns fehlt, ist ein moderner Marx. Piketty bietet in seinem neuen Buch einige Ideen an, die das Recht auf Besitz infrage stellen. Aber es müsste in einer umfassenden Theorie organisiert sein, die wahrscheinlich die Form eines Internetmanifests annehmen würde. (Amira Ben Saoud, 26.10.2019)