Marin Alsop bei ihrem Antrittskonzert in Wien.

Foto: Theresa Wey

Wien – Beim Schlussapplaus hielten sie sich strahlend an den Händen: in der Mitte die Dirigentin Marin Alsop, rechts und links von ihr die Solistinnen Aušrinė Stundytė und Renée Morloc, beiderseits flankiert von den Damen der Wiener Singakademie. Eine symmetrisch angeordnete Phalanx des femininen Musizierens. Kurz zuvor hatte eine sündhafte Nonne den Beichtaufforderungen ihrer Mitschwestern noch mehrfach ein selbstbewusstes "Nein!!!" entgegengeschmettert – den Schlachtruf der #MeToo-Bewegung quasi.

Noch mehr Frauenpower als bei der zeitgleichen Viennale-Eröffnung im Gartenbaukino also am Donnerstagabend im Wiener Konzerthaus: Das muss man erst einmal hinbekommen. Die Kunst wird weiblich. Paul Hindemiths Sancta Susanna hatte Marin Alsop wohl nicht zufällig am Ende ihres Antrittskonzertes als Chefdirigentin des RSO Wien platziert. So virtuos wie routiniert hatte die US-Amerikanerin die Leidenschaften in der Partitur des 1921 uraufgeführten Einakters zu klingendem Leben erweckt. Religiöse Liebesgefühle, die sich mit fleischlicher Wollust in unheiliger Weise vermählen: Alsop weiß beides darzustellen, Kontemplation und Eruption, Innigkeit und Expression. Die Kunst der kontrollierten Ekstase.

"Ungehörte Stimmen"

Schon vor der Pause hatte die 63-Jährige die drei (vom Isenheimer Altar inspirierten) akustischen Schaubilder aus Hindemiths Symphonie Mathis der Maler mit einer meisterlichen Stimmzeichnung vor Ohren geführt: mit einem schlanken, edel geformten Klang, die Orchesterstimmen dynamisch ideal gestaffelt. Wundervoll auch der mehrfache Fokuswechsel von Melos auf Rhythmus im dritten Teil des Werks, der Versuchung des heiligen Antonius.

Foto: Theresa Wey

Zur beglückenden akustischen Versuchung wurde auch die Uraufführung von Lera Auerbachs Orchesterstück Evas Klage. Inspiriert von den lyrischen Zeilen aus John Miltons Paradise Lost, verhalf die neuerdings in Wien lebende, russischstämmige Komponistin hier "ungehörten Stimmen" zu Gehör, wie sie dem Konzerthauspublikum vor Ort erklärte. Und so dürfen in Auerbachs zehnminütigem Werk auch einige Streicher von den hinteren Pulten ihre solistischen Stimmen erheben.

Charmant-skurrile Glissando-Verrenkungen

Mit großem Vergnügen und noch größerer Könnerschaft lässt die Mittvierzigerin in Evas Klage barocke Welten wiederauferstehen, die sich wie in einem Spiegelkabinett präsentieren: fragil, schwebend, zart-gleißend, von etwas windschiefer, verbeulter und doch silberfeiner Eleganz. Volatile, charmant-skurrile Glissando-Verrenkungen, die an die Zauberwelten der Tim-Burton-Filme erinnern, oder auch ein bisschen an Roman Polanskis Tanz der Vampire.

Mehr an Blockbustern wie König der Löwen oder Star Trek schien das Orchesterstück Rapture des im letzten Monat verstorbenen US-amerikanischen Komponisten Christopher Rouse orientiert: wirkungsorientiert wie Filmmusik, stilistisch allerdings auf eine denkbar sinnbefreite Weise mit Restbeständen einer ehemaligen Avantgarde fusioniert. Eine Banalität, die die darauffolgende Genialität im Werk Auerbachs umso deutlicher machte. Jubel für so viel großartige Weiblichkeit im Großen Konzerthaussaal. (Stefan Ender, 25.10.2019)