Caroline Polachek spielt sich auch mit Autotune.

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Zwei Strategien haben sich in der griechischen Mythologie als erfolgreich erwiesen, um den singenden Todesdämonen, den Sirenen, zu entkommen. Entweder man macht es wie der Unterweltler Orpheus und übertönt ihren lockenden Gesang mit seiner eigenen, einfach lauteren Musik – das ist quasi der Metal-Zugang. Oder man macht es wie der archetypische "Trickster" Odysseus und lässt sich beim Vorbeischiffen an den Sireneninseln an den Mast des Nachens binden.

Vorteil: Man kann dem verführerischen Sound en passant lauschen und muss trotzdem nicht sterben. Jedenfalls: Hätten die Sirenen Autotune gehabt, hätten sie vermutlich so ähnlich geklungen wie Caroline Polachek auf ihrem neuen Album Pang.

Caroline Polachek

Es ist der erste Longplayer, den die ehemalige Sängerin der etwas belanglosen Elektropop-Band Chairlift unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht. Zuvor waren bereits Arcadia unter dem Pseudonym Ramona Lisa und Drawing the Target Around the Arrow unter ihren Initialen CEP erschienen.

Digital erkaltete Gefühle

Autotune übrigens soll bei Polachek nicht mangelndes gesangliches Können reparieren. Die 34-jährige Amerikanerin genoss eine klassische Ausbildung, kann technisch einwandfrei singen. Es ist ein bewusst gewähltes Stilmittel, das ihren Liedern über die großen Gefühle oft eine digitale, entrische Kälte einschreibt, sie verfremdet und erst so reizvoll macht – besonders spektakulär auf Ocean of Tears oder Insomnia. Würde man nur diese beiden Lieder kennen, würde man Polachek sofort in die Nähe einer Holly Herndon rücken, die fast akademisch die technischen Möglichkeiten und Grenzen computerbasierter Musik auslotet.

CarolinePolachekVEVO

Polachek kann aber auch so zärtlich klingen wie eine Imogen Heap (Hey Big Eyes) und manchmal wie alle drei Soft-Rock-Schwestern von Haim (So Hot You're Hurting My Feelings) zusammen. Will man dieser Musik einen Namen geben, müsste man wohl mit den beiden etwas dämlichen Begriffen Sophisti-Pop oder Avant-Pop arbeiten, die alles und nichts bedeuten.

Beyoncé singt ihre Lieder

Wichtig ist nur, dass es sich doch irgendwie um Popmusik handelt – Polachek schrieb bereits für Beyoncé, sie weiß, wie ein Popsong zu funktionieren hat. Die Melodien, der Aufbau, die Länge vieler Songs wären absolut chartskompatibel, wären da nicht Polacheks variationsreiche Koloraturen, die mit ein bisschen Fantasie an Barockopern erinnern. Polachek lamentiert, liebt, leidet.

CarolinePolachekVEVO

Die Bildwelten und Videos, die sie zu ihren Liedern kreiert, sind aufgeladen mit Symbolen. Da tanzt sie in Cowboystiefeln durch die Hölle, schaut aus dem Fenster in mystische Paralleluniversen oder trägt verdächtig große Schlüssel am Bund. Man kommt sich vor wie in einer Folge der Serie Charmed – Zauberhafte Hexen, falls sich daran jemand erinnert.

So okkult Caroline Polacheks visuelle Referenzen auch sind, so klar ist ihr musikalisches Wollen: Pang ist ein stringentes, einnehmendes und wunderschönes Album geworden. Man folge Polacheks Lockruf auf eigene Gefahr. (Amira Ben Saoud, 29.10.2019)