Auslöser der Massenproteste gegen soziale Ungleichheit in Chile waren hohe Ticketpreise für Öffis.

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Im Gastkommentar vergleicht der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs die Massenproteste in Paris, Hongkong und jüngst Santiago de Chile miteinander. In den drei Fällen wurden sie durch eine Krise der sozialen Mobilität und Beschwerden über Ungleichheit ausgelöst. Er plädiert dafür, statt auf herkömmliche wirtschaftliche Messgrößen auch auf das Wohlbefinden der Bewohner zu achten.

Paris sah sich vor einem Jahr – nachdem Staatspräsident Emmanuel Macron die Kraftstoffsteuer angehoben hatte – Protestwellen und Ausschreitungen ausgesetzt. Hongkong ist seit März im Aufruhr, nachdem Regierungschefin Carrie Lam einen Gesetzesentwurf vorgelegt hatte, um Auslieferungen auf das chinesische Festland zu gestatten. Und in Santiago de Chile gibt es derzeit Ausschreitungen, nachdem Präsident Sebastian Piñera eine Erhöhung der U-Bahn-Preise angeordnet hatte. Jeder Protest weist zwar lokale Aspekte auf, alle zusammen erzählen sie aber eine umfassendere Geschichte darüber, was passieren kann, wenn sich ein Gefühl, unfair behandelt zu werden, mit einer allgemeinen Wahrnehmung geringer sozialer Mobilität verbindet.

Reiche Städte ...

Legt man die traditionelle Messgröße des BIPs pro Kopf an, sind die drei Städte Musterbeispiele für wirtschaftlichen Erfolg. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Hongkong bei 40.000 Dollar, in Paris bei über 60.000 Dollar und in Santiago, einer der reichsten Städte Lateinamerikas, bei 18.000 Dollar. Im Global Competitiveness Report des Weltwirtschaftsforums rangiert Hongkong auf dem dritten, Frankreich auf dem 15. und Chile auf dem 33. Platz. Doch obwohl diese Länder relativ reich und wettbewerbsstark sind, fühlen sich ihre Bürger laut World Happiness Report in der Sackgasse.

Jedes Jahr werden Menschen in aller Welt in der Gallup-Meinungsumfrage gefragt: Sind Sie zufrieden oder unzufrieden mit der Entscheidungsfreiheit, die Sie über Ihr Leben haben? Während Hongkong beim BIP pro Kopf weltweit auf dem neunten Rang liegt, rangiert es, was die Wahrnehmung der Bevölkerung ihrer persönlichen Entscheidungsfreiheit über den eigenen Lebensweg angeht, viel tiefer, nämlich auf Platz 66. Dieselbe Diskrepanz wird in Frankreich (25. beim BIP pro Kopf, aber 69. bei der Entscheidungsfreiheit) und Chile (48. beziehungsweise 98. Platz) deutlich.

... verzweifelte Bewohner

Ironischerweise stufen sowohl die Heritage Foundation als auch die Simon Fraser University Hongkong als weltweit am wirtschaftlich freieste Stadt ein. Doch was die Freiheit angeht, über ihr Leben zu entscheiden, verzweifeln Hongkongs Bewohner. In allen drei Ländern verzagen junge Städter ob ihrer Chancen auf eine bezahlbare Wohnung und eine anständige Arbeit. Hongkongs Immobilienpreise gehören zu den höchsten der Welt. Chile weist in der OECD, dem Club der einkommensstarken Länder, die höchste Einkommensungleichheit auf. In Frankreich genießen die Kinder aus der Elite angehörenden Familien im Zuge ihres Lebens enorme Vorteile.

Aufgrund der sehr hohen Wohnungspreise werden die meisten Menschen aus zentralen Bezirken verdrängt und sind in der Regel auf das Auto oder öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, um zur Arbeit zu gelangen. Ein großer Teil der Bevölkerung reagiert, wie die Proteste in Paris und Santiago zeigen, daher möglicherweise besonders sensibel auf Änderungen bei Transportpreisen.

Und die Lehren daraus? Alle drei Regierungen wurden von den Protesten völlig überrascht. Sie hatten das Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung verloren und sahen daher nicht voraus, dass ihre scheinbar bescheidenen politischen Maßnahmen eine massive gesellschaftliche Explosion auslösen würden.

Vielleicht am wichtigsten (und wenigsten überraschend) ist, dass die herkömmlichen wirtschaftlichen Messgrößen für das Wohlbefinden völlig unzureichend sind, um die wahre Stimmung innerhalb der Bevölkerung erfassen zu können. Das BIP pro Kopf misst das Durchschnittseinkommen einer Volkswirtschaft, aber über die Einkommensverteilung, die Wahrnehmungen der Menschen in Bezug auf Fairness oder Ungerechtigkeit, das Gefühl finanzieller Anfälligkeit oder sonstige sich stark auf die Lebensqualität insgesamt auswirkende Umstände (wie das Vertrauen in die Regierung) sagt es nichts aus. Viele Rankings fangen vom subjektiven Gefühl innerhalb der Bevölkerung über gesellschaftliche Fairness, die Entscheidungsfreiheit über den eigenen Lebensweg, die Ehrlichkeit der Regierung und die Vertrauenswürdigkeit der Mitbürger viel zu wenig ein.

Unzufriedenheit messen

Um etwas über derartige Stimmungen zu erfahren, muss man die Bevölkerung direkt über ihre Zufriedenheit mit ihrem Leben, ihr Gefühl bezüglich der persönlichen Freiheit, ihr Vertrauen in die Regierung und in ihre Mitbürger und über andere Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens befragen, die sich stark auf die Lebensqualität auswirken. So kann die Aussicht auf gesellschaftliche Unruhen eingeschätzt werden – so, wie das beim World Happiness Report der Ansatz ist.

Die Idee der nachhaltigen Entwicklung, die sich in den 2015 von den Regierungen der Welt verabschiedeten 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) widerspiegelt, besteht darin, über herkömmliche Indikatoren wie das BIP-Wachstum und das Pro-Kopf-Einkommen hinauszugehen und zu einer deutlich umfassenderen Reihe von Zielen zu gelangen, zu denen u. a. gesellschaftliche Fairness, Vertrauen und ökologische Nachhaltigkeit gehören. So lenken die SDGs besonderes Augenmerk nicht nur auf die Einkommensungleichheit, sondern auch auf breiter angelegte Messgrößen für das Wohlbefinden.

Rezept gegen Unfrieden

Jede Gesellschaft ist gut beraten, den Puls ihrer Bevölkerung zu messen und die Ursprünge von sozialer Unzufriedenheit und Misstrauen ernst zu nehmen. Wirtschaftswachstum ohne Fairness und ökologische Nachhaltigkeit ist ein Rezept für Unfrieden, nicht für Wohlbefinden. Wir brauchen eine deutlich umfassendere Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, eine stärkere Einkommensumverteilung von den Reichen auf die Armen und mehr öffentliche Investitionen in ökologische Nachhaltigkeit. Selbst scheinbar vernünftige politische Maßnahmen wie der Abbau von Subventionen auf Kraftstoffe oder die Erhöhung der U-Bahn-Preise, um diese kostendeckend zu machen, führen zu massiven Unruhen, wenn sie unter den Bedingungen geringen gesellschaftlichen Vertrauens, hoher Ungleichheit und eines weithin geteilten Gefühls mangelnder Fairness erfolgen. (Übersetzung: Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 28.10.2019)