Die nackten Körper werden in "Habitat" immer wieder zum Ornament der Masse, in dem der individuelle Körper verschwindet.

Eva Würdinger

Eine Menschenmenge wird durchgerührt. Gut fünfhundert Besucher bewegen sich in der Halle E des Museumsquartiers, und jetzt drängen drei wilde Horden nackter Leiber durch diese Herde.

An dieser Stelle erreicht die zweieinhalbstündige neue Performance Habitat der Wiener Choreografin Doris Uhlich einen Höhepunkt: Besucher und Akteure geraten aneinander – die einen bekleidet, die anderen nackt. Licht wischt über diese Vermengung hinweg, der Sound des DJ Boris Kopeinig pulsiert in der Halle, dünne Fahnen von Theaterrauch wehen von den Seiten her.

Vom Rand, aus leicht erhöhter Position betrachtet, lässt sich aus der Form dieser Fleischesfreude einiges ablesen. Erstens kann das Publikum, um genau zu sein, nie das Fleisch, sondern immer bloß die Haut der Performer wahrnehmen. Diese sind vor allem damit beschäftigt, sich selbst in ihrer kutanen Hülle zu erfahren. Zweitens bleiben Performer und Publikum trotz der Vermischung getrennt – wie Wasser und Öl, die zwar eine Emulsion bilden, sich aber doch wieder säuberlich voneinander trennen.

Disziplinierter Blick

Und drittens tragen die Zuschauer in diesem temporären künstlerischen Lebensraum wie sonst auch ihre kulturellen "Brillen": einen vorgeformten oder disziplinierten Blick. Damit erhält Uhlichs Arbeit eine zusätzliche, wohl mit Absicht eingezogene Ebene: Das Publikum wird inte grativer Teil eines Kunstwerks, das ganz auf die Konfrontation mit dem Eros jedweder menschlichen Körperlichkeit gerichtet ist. Wer es schafft, nicht nur den Darstellern zuzusehen, sondern auch die anderen Zuschauer zu mustern, kann bei Habitat versuchen, Blicke, Mienen und Körperhaltungen des Publikums zu studieren.

Zu Beginn der Performance sitzen die Besucher noch an den Rändern der Halle. Die Darsteller strömen bereits vollständig entkleidet aus einer Tür und stellen sich in drei dicht gedrängten Gruppen auf. Diese Tableaux vivants ändern ihre Symbolik auf geradezu schockierende Art, sobald die Performer sich auf den Boden legen und etliche Zuschauer sich um diese Liegenden herum aufstellen, um auf sie herabzublicken. Die Irritation verstärkt sich, sobald alle 120 Darsteller zusammen eine große Hautlandschaft aus Leibern bilden: eine als kollektive Nacktheit den Blicken dargebotene, unzugängliche Insel.

Vorbild Spencer Tunick

Das Motiv ist nicht ganz un bekannt. In diesen und anderen Passagen von Habitat arbeitet Doris Uhlich einem Vorbild nach: dem Fotografen Spencer Tunick. Ein bisschen schade ist, dass diese Referenz weder auf der Website noch im Abendprogramm angeführt wird. Der US-Amerikaner ist bereits seit Mitte der 1990er-Jahre bekannt für seine Großinstallationen nackter Körper im öffentlichen Raum – auch in Wien, wo er etwa 2008 von der Kunsthalle präsentiert wurde.

Tunick stellt, setzt oder legt nackte Körper in Massen auf Straßen oder Plätze, in Stadien oder in Theater. Ihm geht es um das Bild, Uhlich dagegen arbeitet mit dem Ereignis. Dafür bettet sie ihre Darsteller in eine Dramaturgie ein, die es erlaubt, Betrachter und Performer ineinanderfließen zu lassen. Auch sie hat übrigens bereits den öffentlichen Raum bespielt, 2017 bei Impulstanz als Seismic Session in einer Vorform von Habitat auf einem Baugerüst auf der Rückseite der Wiener Secession.

Freundliche Utopie

Sowohl Tunick als auch Uhlich inszenieren Gegenbilder zu den Ansichten von Bergen nackter Leichen, wie sie sich bei der Befreiung der NS-Konzentrationslager zeigten. In Zeiten eines wiedererstarkten Rechtsradikalismus erinnert gerade ein solches Gegenbild, mit dem das Leben in den Mittelpunkt gerückt wird, daran, dass auch an die Entblößung des Körpers in seiner Entwertung und Vernichtung gedacht werden muss.

Mit Habitat bewegt sich die Choreografin etwas zu sehr innerhalb einer freundlichen Utopie. Die Ansage "Iss Gemüse, tanze Fleisch, lebe Habitat", abgedruckt im Abendprogramm, wirkt wie das Programm für wohlstandsleidende Konsumopfer. Letztlich ist Habitat zwar ein erhellendes Erlebnis, aber doch zu glatt und eng im Ansatz – und insgesamt viel zu hedonistisch umgesetzt. (Helmut Ploebst, 27.10.2019)