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Das britische Unterhaus ist de facto gelähmt, wie man an den bisherigen Brexit-Abstimmungen sehen kann. Zeit für Neuwahlen?

Foto: REUTERS/Toby Melville

Britische und EU-Politiker haben sich in ein komplexes Pokerspiel verwickelt. Sowohl der Termin einer vorgezogenen Neuwahl des Unterhauses wie auch die Dauer der bereits grundsätzlich beschlossenen Verlängerung der Brexit-Austrittsperiode standen am Wochenende zur Diskussion: Premierminister Boris Johnson will einen Urnengang am 12. Dezember erzwingen, die Liberaldemokraten und schottische Nationalisten sprechen vom 9. Dezember, die Labour-Partei erscheint ratlos. Und die EU wartet ab, ehe sie einer lediglich um wenige Wochen oder einer um drei Monate dauernden Verlängerung zustimmt.

Unterdessen hat der Chef der anglikanischen Staatskirche, Erzbischof Justin Welby, die Politiker zur Zurückhaltung ermahnt. "Der Verstärkereffekt der sozialen Medien macht sorglosen Sprachgebrauch besonders gefährlich." Zwar wollte der Kirchenmann seine Mahnungen nicht auf Johnson und die Konservativen beschränkt wissen; ausdrücklich zeigte sich Welby aber "schockiert" über die Art und Weise, wie der Premier kürzlich Morddrohungen gegen weibliche Labour-Abgeordnete als Humbug abtat.

Eine Studie der Universitäten von Cardiff und Edinburgh hat bestätigt, wie sehr der Brexit die britische Gesellschaft spaltet. Bei einer umfassenden Befragung wurden Menschen in allen Landesteilen danach gefragt, welche negativen Folgen sie in Kauf nehmen würden, um ihre eigene Meinung im Streit um den EU-Austritt durchsetzen zu können. Bis zu 71 Prozent der Brexiteers und 58 Prozent der EU-Befürworter halten Anschläge auf Parlamentarier oder gewalttätige Demos für einen akzeptablen Preis. Für die Zukunft erwarten sie Unruhen, Krawalle, politische Anschläge, die Auflösung des Landes in seine Bestandteile sowie eine Verschlechterung der Wirtschaftslage. Beide Seiten seien "zu einer fundamentalen Neuordnung der politischen Regeln" bereit, analysiert Professorin Ailsa Henderson von der Uni Edinburgh.

Der Premier zündelt

Wie sehr die stark zugespitzte Sprache zu Johnsons Konzept gehört, verdeutlichte eine den Medien zugespielte Äußerung des Premierministers aus der jüngsten Kabinettsitzung. Das Parlament solle "aufhören, das Land als Geisel zu nehmen", wird der Leiter einer Minderheitsregierung von mehreren Sonntagszeitungen zitiert. Sein Chefberater Dominic Cummings will den Abgeordneten die angestrebte Neuwahl "um die Ohren hauen: Wir machen jeden Tag eine Abstimmung: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag." Letzteres dürfte sich, wie viele Parolen aus der Downing Street, als heiße Luft erweisen. Immer wieder hat Speaker John Bercow per Geschäftsordnung zu verhindern gewusst, dass dieselbe Frage den Abgeordneten mehrfach zur Abstimmung vorgelegt wird.

Bercow hat für diesen Donnerstag seinen Rücktritt angekündigt, am darauffolgenden Montag stellen sich vier Frauen und fünf Männer zur Wahl für die Nachfolge. Doch diesen Zeitplan stellt ein neuer Vorstoß der Liberaldemokraten sowie der schottischen Nationalpartei SNP infrage: Gemeinsam haben die Fraktionschefs Joanne Swinson und Ian Blackford EU-Ratspräsident Donald Tusk um eine Brexit-Verlängerung bis Ende Jänner gebeten. Dadurch erhalte das Parlament die Garantie, dass ein No-Deal-Brexit tatsächlich unmöglich wird.

Im Gegenzug soll das Unterhaus mittels eines neuen Gesetzes seiner Selbstauflösung am 4. November zustimmen und die Wählerschaft fünf Wochen später, am 9. Dezember, an die Urnen rufen.

Gemeinsam verfügen die beiden Parteien im derzeitigen Unterhaus über 54 von 650 Mandaten. Beide streben eine zweite Volksabstimmung über den Brexit an; für den unwahrscheinlichen Fall einer Alleinregierung ihrer Partei hat Swinson sogar die Rücknahme des britischen Austrittsbegehrens ("Artikel 50") in Aussicht gestellt.

Schlechte Werte für Labour

Die Initiative hat schon deshalb wenig Chancen, weil Johnsons Regierung das dafür nötige Gesetz im Parlament einbringen müsste. Ziel dürfte vielmehr sein, die heillos zerstrittene Labour-Partei unter Druck zu setzen: Jeremy Corbyn hat ebenso wie die nordirische Unionistenpartei DUP offengelassen, ob seine Partei dem 12. Dezember die notwendige Zustimmung erteilen will.

Umfragen lassen bei Labour keinen Optimismus aufkommen: Man liegt rund zehn Punkte hinter den Tories, eine Umfrage von Opinium Research ergab sogar einen Abstand von 16 Punkten. (Sebastian Borger aus London, 28.10.2019)