Choreografin Mei Hong Lin verwandelt Igor Strawinskys "Le sacre de printemps" in eine Erzählung über die Auswirkungen moderner Barbarei auf deren Opfer.

Foto: Sakher Almonem

Männer in schwarzen Stiefeln. Marschierende Uniformierte. Mörder, die ihre Opfer mit Vergnügen drangsalieren. Ein teuflisches Trio respektive Quartett tanzt als personifiziertes Verderben durch zwei Stücke, die Mei Hong Lin, Leiterin der Compagnie TanzLin.Z des Linzer Landestheaters, zu einem Abend zusammengefasst und am Wochenende im Musiktheater erstmals gezeigt hat: Metamorphosen zur gleichnamigen Musik von Richard Strauss und Le sacre du printemps, Igor Strawinskys und Vaslav Nijinskys Skandalstück.

Metamorphosen zeigt mit direktem Bezug zur NS-Okkupation Frankreichs deren Verwüstungsarbeit an der ganz normalen Bevölkerung. Die Unterdrückung, die Niedergeschlagenheit, den Sadismus des Besatzungsregimes.

Für ihre Interpretation des Frühlingsopfers hat Mei Hong Lin sich an die Geschichte von Yoram Kaniuks Roman Adam Resurrected gehalten. Kaniuk erzählt von einem jüdischen Clown, der die nationalistischen Todescamps überlebt, Israel erreicht und dort einen Zusammenbruch erleidet. Lins Le sacre du printemps beginnt in der psychiatrischen Klinik. Dort hat sich Adam, der Clown, zusammen mit anderen Insassen in die Fantasiewelt eines Königreichs gerettet. Zu den Patienten gehört auch ein – bei Lin – Mädchen, aus dem die NS-Folter ein Tierwesen gemacht hat.

Überraschendes Ende

Das Tiermädchen (Núria Giménez Villarroya) tanzt um ihren Verstand und ihr Überleben.
Foto: Sakher Almonem

Die Choreografin zeigt Adams Flashbacks und damit die Ursache für sein unerträgliches Schuldgefühl. In der Klinik kämpft Adam mit dem Tiermädchen (exzellent getanzt von Núria Giménez Villarroya) und wie dieses um das psychische Überleben. Das Ende soll hier nicht verraten werden. Im Vergleich mit den meisten der zahlreichen bereits existierenden Interpretationen von Le sacre du printemps ist die vorliegende überraschend.

Lin verwandelt Strawinskys archaische Geschichte über eine junge Frau, die von ihrer Gemeinschaft geopfert wird, in eine Erzählung über die Auswirkungen moderner Barbarei auf deren Opfer. Geschickt setzt sie dabei das narrative Potenzial des Tanzes ein. Beide Stücke sind unter dem Gesamttitel Le Sacre zusammengefasst. So wird aus zwei Blickwinkeln der Begriff des Opfers ausgeleuchtet. Dessen Ambivalenz stellt einen noch nicht zu Ende aufgearbeiteten Zugang zu den durch den Nationalsozialismus verursachten Traumata dar.

Solange das ganze Ausmaß des durch Holocaust und Krieg verursachten menschlichen Leids nicht erfasst ist, kann die Einfühlung in die tatsächliche Monstrosität dieser Katastrophe nicht wirklich gelingen. Und genau auf dieses Leid als Richtmaß zur Bewertung zielt Mei Hong Lins gelungener Tanzabend. (Helmut Ploebst, 28.10.2019)