Das Grabmal des unbekannten Soldaten auf dem Arlingtoner Friedhof zählt zu den meistbesuchten Attraktionen in Washington, DC. Das Morbide scheint also nicht nur den Wienern eigen zu sein.

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Ein warmer Herbsttag: Über hundert Besucher warten geduldig. Schüler, Familien und Touristen, sie alle sind aufgefordert, leise zu sein. Ihre Smartphones haben alle gezückt. Ein Metallgeländer mit hölzernem Handlauf hält die Zuschauer auf Distanz. Dahinter: drei Soldaten in Ausgehuniformen mit dunklen Sonnenbrillen und M14-Gewehren. "Changing of the Guards" – die Wachablösung vor dem 50 Tonnen schweren Grabmal des unbekannten Soldaten in Arlington.

Mit strenger Miene und eckigen Bewegungen überprüft der wachhabende Soldat Ausrüstung und Uniform seines Gegenübers. Dann kommt die Ablösung um die Ecke. Der Soldat schreitet langsam auf einer dunklen Spur über den hellen Granit: Es ist der Abrieb von schwarzen Schuhen – seiner eigenen und jener seiner Kameraden –, der sich in den Stein hineingefressen hat. Seit Jahrzehnten marschieren die Wachsoldaten hier auf und ab, täglich im Halbstundentakt, und haben längst eine imaginäre Erdumrundung hinter sich.

Patriotenmagnet

Arlington ist zwar nur einer von 135 Nationalfriedhöfen der Vereinigten Staaten. Aber er ist zu einem Wahrzeichen geworden – ein Touristen- und Patriotenmagnet mit Blick auf Pentagon, Kapitol und Weißes Haus. Der nach dem Calverton National Cemetery in New York zweitgrößte Friedhof der USA mit über 420.000 Gräbern liegt unmittelbar an der Grenze zwischen dem Bundesstaat Virginia und der Hauptstadt Washington – getrennt durch den Potomac River. Mit rund 250 Hektar Fläche ist er so groß wie 353 Fußballfelder. Eine riesige parkähnliche Anlage mit gepflegtem Rasen, altem Baumbestand, Hügeln und Bächen.

Arlington – das ist auch die Bürokratisierung des Todes: Nicht jeder x-beliebige US-Amerikaner wird hier bestattet. "Man muss gedient und das Recht auf eine Militärpension erworben haben", erklärt Christopher Warren. Der 56-jährige US-Air-Force-Veteran ist Historiker des Arlington National Cemetery.

Ein bisschen Disneyland

Vier Millionen Besucher kommen jedes Jahr. Damit gehöre der Friedhof zu den Top-Attraktionen von Washington, DC, bekräftigt Cara O'Donnell. Die Mittvierzigerin arbeitet für den Bundesstaat Virginia, der den Totenpark betreibt. Wie so oft in den USA ist ein bisschen Disneyland dabei: Eine Armada elektrisch betriebener weißer Bummelzüge karrt Touristen über das Gelände. Auch wir fahren mit – entlang endloser Reihen schlichter weißer Grabsteine auf grünem Rasen. Zwischendurch: opulent gestaltete Mahnmale. Zum Beispiel für die Astronauten gescheiterter Weltraummissionen wie Apollo 1 und die Spaceshuttle-Besatzungen der Challenger und der Columbia.

Überraschend: Nur zwei US-Präsidenten sind in Arlington bestattet – Howard Taft und John F. Kennedy. Sein Grab ist zur Pilgerstätte geworden. Um dort hinzukommen, müssen Besucher einen kleinen Hügel erklimmen. Die beiden Grabplatten des 35. US-Präsidenten und seiner Frau Jacqueline Kennedy Onassis sind identisch und schlicht. In der Mitte des Grabes lodert die ewige Flamme, die von einer unterirdischen Gasleitung gespeist wird.

Am 15. Juni 1864, mitten im Bürgerkrieg, richtete der Nordstaaten-General Montgomery C. Meigs den Soldatenfriedhof ein. "Damit Gefallene nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden mussten", sagt Historiker Warren. Arlington war damals weniger eine Frage der nationalen Ehre als einer Notwendigkeit geschuldet. Mehr als 600.000 Soldaten starben während des Sezessionskriegs. Ironie der Geschichte: Das Anwesen samt Park gehörte der Familie des Südstaaten-Generals Robert Lee und wurde von Nordstaaten-Präsident Lincoln konfisziert. Begraben wurden nur gefallene Nordstaatler.

Unterschiedliche Sektionen

Überhaupt spiegelt der Nationalfriedhof die geltende Gesellschaftsordnung wider: Bei seiner Gründung 1864 wurden in Extrasektionen die schwarzen Soldaten bestattet. Heute gibt es 70 verschiedene Bereiche in Arlington: einen für die Toten der Kriege im Irak und Afghanistan, einen für Frauen in der Armee, für Krankenschwestern – und einen für 3.800 ehemalige Sklaven.

Nach dem Zweiten Weltkrieg dann erste Platznot. Deshalb wurde 1948 durch US-Präsident Harry S. Truman festgelegt: Es dürfen nur noch einen Meter hohe rechteckige, weiße Grabsteine für alle verwendet werden – egal ob General oder Infanterist. Nur im Tod sind hier alle gleich. Unzählige Glaubensgemeinschaften sind auf dem Friedhof vertreten. 70 religiöse Symbole auf den Einheitsgrabsteinen erlaubt das US-Militär – darunter Embleme für Buddhisten, Christen, Muslime, Zoroastrier und Atheisten –, sogar Thors Hammer für das Germanische Neuheidentum darf verwendet werden. Schnittblumen sind als Schmuck erlaubt, Topfpflanzen nicht.

Digitale Kartierung

Vor einigen Jahren erschütterte ein Skandal den Heldenfriedhof. Sterbliche Überreste wurden in falschen Gräbern bestattet. Ein Albtraum für die Verantwortlichen und Angehörigen: ein christlicher Leichnam, der unter dem Grabstein eines Atheisten ruht. "Wir hatten keine geodatengestützte Kartierung der Gräber", erklärt Pressesprecherin Kerry Meeker. "Das war ein riesiges Problem. Jetzt, mit der digitalen Kartierung, können wir jedes Grab genau zuordnen."

Spät am Nachmittag werfen die Grabsteine lange Schatten über die menschenleere grüne Fläche. Ein anderer Wachsoldat wartet jetzt vor 50 Tonnen Mamor darauf, dass er abgelöst wird. (Anja Steinbuch, Michael Marek, 1.11.2019)