Ärztin Corinna (Constanze Passin) im Streit mit ihrer Mutter Mechthild (Wiltrud Schreiner).

Foto: Matthias Heschl

So ein Wohnungsauszug verschafft Übersicht. Das Leben scheint sauber und aufgeräumt, es bringt aber Dinge zum Vorschein, von denen im Stück Dunkel lockende Welt zwar nur die Oberfläche zu sehen, dafür aber viel zu erahnen ist.

Eine in der Leipziger Noch-Wohnung von Corinna herumliegende menschliche kleine Zehe veranschlagt gleich zu Beginn den Verlogenheits- und Morbiditätsgrad dieses dreiaktigen Dramas. Die junge Ärztin (Constanze Passin) will ihrem Freund nach Peru folgen und gerät im Smalltalk mit dem Vermieter Joachim (Wojo van Brouwer) in größte Angespanntheit. Ein Übergabegespräch, wie es auch Beckett hätte gefallen können.

Kleine Zehe, ganz groß

Im Werk X erinnert nun eine lässige Inszenierung des Berliner Regisseurs Nurkan Erpulat an dieses 2006 uraufgeführte Stück des sang- und klanglos in die Opern- und Filmkunst abgebogenen Tiroler Dramatikers Händl Klaus. Die herrenlose kleine Zehe misst auf der royalblau austapezierten Bühne von Renato Uz satte vier bis fünf Meter. Ein schrumpeliges Monster, das womöglich Beweis einer kriminellen Tat und riesengroßen Lüge ist, zugleich aber auch Menschen einander näherbringt.

Vermieter Joachim (Wojo van Brouwer) und Ärztin Corinna (Constanze Passin) nähern sich im Leipiziger Schutt.
Foto: Matthias Heschl

Nicht Joachim und Corinna, aber deren Mutter aus München und Joachim. Diese wurde von Corinna, die gar nicht nach Peru, sondern eben nach München gefahren ist, angefleht, die Zehe aus der Leipziger Wohnung zu holen. Dort trifft sie also auf Joachim, und die beiden nähern sich im Schutt der bereits begonnenen Sanierungsarbeiten einander an.

Nurkun Erpulat deutet die Puppenhaftigkeit der Protagonisten mit Commedia-Schminke und -Mimik an. Sie erstrahlen in morbider, aber immer kreuzfideler Unkaputtbarkeit. Joachim (gepudert und toupiert) klimpert an ramponierten Klavieren mit zwielichtiger Lebensfreude à la Johann Strauß und Dmitri Schostakowitsch.

Die komische, nachtschattige Wahrheit des Dramentextes bringt Erpulat ohne Druck, vergnüglich zum Vorschein. Mit Verve gespielt ist diese Dunkel lockende Welt ein sinnlich-lustiger Abend, zugleich Fluch und ein Hoch auf die Lebenslüge. (Margarete Affenzeller, 29.10.2019)