Bassist und Bandleader Lukas Kranzelbinder (Mi.): "Es geht nicht darum, für mich selbst zu spielen, sondern den Leuten mit dieser Musik eine Form von Energie zu geben, die etwas mit ihnen macht."

Foto: Peter van Breukelen

Wenn Lukas Kranzelbinder im Zusammenhang mit der eigenen Band Shake Stew von besonderen Erfahrungen berichtet, "einer Atmosphäre, wie ich sie zuvor noch nie erlebt habe", irrt der Mann vielleicht, oder er trägt womöglich nur dick auf. Innenansicht macht oft blind. Wenn allerdings nach Konzerten jemand zu ihm kommt und behauptet, "eure Musik kann Tote zum Leben erwecken", birgt solch Übertreibung doch auch bestätigenden Charakter.

Schließlich kämen "immer wieder auch Rückmeldungen, wie sehr die Leute durch einzelne Stücke bewegt werden", so Kranzelbinder. Und wenn dann Mails einlangen, "in denen beschrieben wird, wie ein Album einer Person in einer Zeit persönlichen Verlustes geholfen hat, gibt einem das schon zu denken", sagt der Bassist, der mit Shake Stew auch reichlich internationale Erfolge feiert, an die er mit der Neuheit Gris Gris anschließen will.

Shake Stew

Da es dem Kollektiv dabei gelang, im Studio eine emotionale Ausnahmesituation herzustellen, könnten weitere eindringliche Mails folgen. Dieser Jazz brennt. Bei den gerne epischen Stücken liefern kleine komponierte Inseln, markante winzige Themen, Impulse für Feste der Improvisation.

Wenn etwa Kapazunder wie der Saxofonist Clemens Salesny oder der Trompeter Mario Rom zu Soli ansetzen, ist von bleierner Routine nichts zu spüren. Durch das spontane instrumentale Umkreisen der Kernmotive steigert sich die Musik vielmehr zum Dokument authentischer Exaltation. Die Monologe verschmelzen dabei bisweilen zum hitzigen Kollektivchor.

Guter Rahmen

Der Vorteil der dominanten modal-sparsamen Harmonik ist für den jeweiligen Instrumentalisten offensichtlich: Die Bedingungen geben der Versenkung Raum und Zeit, also dem langsamen Ausspielen von Ideen. Alles Erlernte und Erübte wird denn auch hier zu eine Art authentischem Action-Painting.

Der Titel Gris Gris ist nicht unpassend gewählt – als uralter afrikanischer Begriff für ein Objekt: "Es kann ein Amulett oder ein Talisman oder aber etwas Abstrakteres sein, das der Trägerin und dem dem Träger eine bestimmte Art von Energie verleiht." Und als solch ein akustisches Amulett "betrachte ich dieses Album", sagt der 1988 in Klagenfurt geborenen Kranzelbinder.

Shake Stew

Dass es aber gleich eine Doppel-CD werden sollte? "Die Musik musste einfach raus! Ich habe da gar keine Wahl gehabt: Wir haben wie immer im Studio einfach aufgenommen, was uns gerade musikalisch begleitet. Da so unglaublich viel Material rausgekommen ist, war klar, dass man eben zwei CDs machen muss und nicht eine." Es ergebe für ihn keinen Sinn, "Musik aufzubewahren und erst später zu veröffentlichen. Das ist Shake Stew, so klingen wir gerade – auch wenn eine Doppel-CD ökonomisch ein Wahnsinn ist."

Afrika nicht weit

Das Paradoxe an diesem Albumdoppler: Er verbreitet bei allem Exzess des Ausdrucks und bei aller partiellen rhythmischen Komplexität der knapp gehaltenen Arrangements eine tröstliche Atmosphäre. Die Musik wirkt wie eine Landschaft, die bei aller Dramatik eines Ideengewitters etwas Entschleunigendes bewahrt. Dabei: An den afrojazzartigen Einflüssen und der Riffstruktur ist zu erlauschen, dass Kranzelbinder quasi weltmusikalisch geprägt ist.

Nach wie vor dominiert eine repetitive Basis, auf welcher schließlich Steigerungen quasi ins Dionysische stattfinden, die auch auf die Arbeiten des wilden Bassistengenies Charles Mingus verweisen. Grundsätzlich gehe es nicht darum, "mich selbst zu spielen, sondern den Leuten mit dieser Musik eine Form von Energie zu geben, die etwas mit ihnen macht".

Der Bandname, also Shake Stew, soll dem nicht im Wege stehen. Er bedeutet nichts Bestimmtes. "Meine Idee war es, einen Namen zu wählen, der gut klingt, aber noch nicht mit einer bestimmten Assoziation verbunden ist." (Ljubiša Tošić, 29.10.2019)