Die Frau ohne Eigenschaften liebte ihr Land, seine Vegetation, den Wechsel der Jahreszeiten, den Wechsel der Gefühle, der Geschmäcker. Sie liebte, dass man sich in Kakanien von Berg zu Hügel und von Donauauen gen Pannonien bewegen konnte, dass es nicht lange brauchte, um in eine andere Landschaftsform einzudringen. Die regionale Berechenbarkeit hatte es ins sich. Besondere rurale Formen, kulinarische Diversität, Klangverschiebungen in der Sprache faszinierten sie. Lena vergötterte Kürbiskernöl, besonders dann, wenn es eine cremig schokoladige Konsistenz aufwies.

Jedes Jahr beobachtete sie belustigt, wie sich die Bevölkerung im Indian Summer auf die Pilgerfahrten in die kakanische Toskana vorbereitete. Und da packte sie ebenso die Reiselust und sie entschied, mit Paul, ihrem Liebsten, es den Bewohnerinnen und Bewohnern ihres Landes gleichzutun, um sich auf den Weg in die Weinberge zu begeben. Stürmische und doch ruhige Zeiten waren es, voller Traubenduft und einem malzig, erdig warmen Geruch in der Luft, dem Lena sonst nur in einem der Außenbezirke der Hauptstadt begegnete.

Foto: Ruth Höpler

Vulkanien

Herbstausflüge waren Lena am liebsten. Die Herbstsonne motivierte. Das Farborchester lud dazu ein, über die sanften Hügel zu wandern, in tiefe Gespräche zu versinken und sich die nicht mehr vorhandenen Vulkane in der Ferne wachzurufen. "Traumland Vulkanien. Schaumig gerührter Kakao", überlegte die Frau ohne Eigenschaften. "Doch wo blieb der Lavageruch?"

Der ultimative Schokoladenvergleich

Paul und Lena waren gerade durch den Essbaren Tiergarten spaziert und hatten sich dem Unterschied zwischen den Worten "Vorstellung" und "Erwartung" genähert, als ein SMS-Ton den Gesprächsfaden riss. Sie blickte auf ihr Smartphone, prüfte die Eingänge. Ihre Freundin Anna hatte geschrieben. Lena und Anna waren gemeinsam in der Musikschule gewesen. Nachdem sie sich einige Jahre aus den Augen verloren hatten, begegneten sie einander zufällig auf einer Vernissage. Seitdem trafen sie sich regelmäßig und führten Gespräche über Dinge, über die Frauen halt reden, gelegentlich mit einem intellektuellen Anspruch.

Anna schrieb, dass sie ihre Freundinnen manchmal als Konkurrentinnen empfand, besonders dann, wenn sie sich mit ihnen verglich. Die Frau ohne Eigenschaften erinnerte sich an den Austausch über die Leistungsgesellschaft, den sie vor einigen Wochen geführt hatten. Sie dachte an die Kakaoschalen und die geschmolzene Schokolava, die sie vor wenigen Stunden dahinfließen sah.

Foto: Ruth Höpler

Monolog Hoffnung

Woher kommt es, dass wir miteinander konkurrieren? Dass wir nur Erfolg empfinden, wenn wir andere übertrumpfen? Wieso wollen wir besser sein als andere? Stärker? Weiblicher? Was ist Weiblichkeit? Wieso Schlanker? Nicht Schlauer? Wieso Äpfel mit Birnen vergleichen? Schwarze oder Weiße? Wieso glauben wir, bessere Frauen zu sein, wenn unsere Hintern in Form sind? Was ist Schönheit? Paradies: Hoffnung. Wieso ist Cellulite hässlich? Wer sagt das? Orangenhauteffekt gleich Gletscherschmelzeffekt.

In einem Frauenmagazin letztens: In der Allianz für Schönheitschirurgie (AfS) hatte nun endlich eine Frau das Präsidium übernommen. Arztbesuche sind unangenehm. Nicht die Untersuchungen, sondern die Warteraumsituation, in der man so ein Heft in die Hand nimmt, auf dem die strahlend lässige Frau mit den aufblondierten, unnatürlich mit Lockenstab gewellten Haaren einem zulächelt.

Wozu dient eigentlich dieser Augenbrauenwahn? Wozu Augenbrauentransplantationen? Wieso um Himmels Willen? Wen schert es, ob die Augenbrauen wohlgeformt, zottig, Mousse-au-chocolat-braun, dicht oder undicht sind? Wieso gibt es unendlich viele Kosmetikprodukte, nur um ihre Augenbrauen in Form zu bringen? Ich bin doch schon damit überfordert, meine Oberschenkel in Form zu halten.

Ein YouTube-Kanal mit einer zierlich, groß gewachsenen Schwedin, die einen neuen Trend einleitete. Sie rasierte sich die Augenbrauen immer komplett ab und übermalte die Stellen so, dass es beinahe so aussah, als hätte sie eh Augenbrauen, aber nicht diese Baseballbalkenbrauen, sondern zarte, blonde unauffällige. Statement? Protest? Leere? Oder doch der letzte Schrei? Marketingstrategie? Wer stellt sich denn jeden Morgen vor den Spiegel und rasiert sich die Augenbrauen ab?

Zurück in die kakanische Toskana

Lena stöberte abstrakt vor sich hin und überlegte, wie dieser gedankliche Schönheitswahneinschub mit dem Thema Konkurrenz zusammenhing: "Leistungsgesellschaft gleich Beauty-Contest? Kann man Leistung nur dann erbringen, wenn man schön ist? Hilft Schönheit beim Überleben in dieser Leistungsgesellschaft? Werden wir dadurch erfolgreich? Mittlerweile wird ja sogar das Scheitern als Geschäftsstrategie genutzt. Jede Krise eine Chance. Jeden Tag. Ein Mantra. Resilienztraining. Also Schluss mit dem Prokrastinieren! Scheitern ist toll! So super! Klatschen wir uns die Lavaerdemasken ins Gesicht. Scheitern macht uns reicher und schöner. Schokolade auch." (Katharina Ingrid Godler, 31.10.2019)

Fingerzeig

  • Die Allianz für Schönheitschirurgie (AfS) gibt es nicht wirklich. Die Österreichische Gesellschaft für plastische, ästhetische und rekonstruktive Chirurgie (ÖGPÄRC) diente als Vorlage.
  • Sie haben richtig geraten: Die Frau ohne Eigenschaften besuchte in dieser Folge die Zotter Schokoladen-Manufaktur:
  • Vulkanien ist ein Kunstwort. Es kommt nicht in "Der Mann ohne Eigenschaften" vor.
  • Die zierlich, groß gewachsenen Schwedin, von der im Monolog die Rede ist, heißt Jenny Mustard.
  • In der Vorbereitung für diesen Beitrag wurde immer wieder das Lied "Schokolade" von Statt Leopold gehört.
  • In Klagenfurt am Wörthersee gibt es übrigens eine Schokoladenmanufaktur, die von Bernhard Musil geführt wird.
  • Die Raumplanerin und Fotografin Ruth Höpler unterstützt ab sofort mit ihrer Stadtlinse das Blogprojekt.

Lena beschließt, ein Jahr Urlaub vom Leben zu nehmen, nachdem der Plan, Karrierefrau zu werden, erneut scheitert. Der Blog über die Frau ohne Eigenschaften macht sich seriell auf die Suche nach dem Ursprünglichen im analog-digitalen Interim. Er bietet Reflexionsraum für das Smoothiezeitalter, in dem Lena lebt.

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