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Folgt Europa dem Land der aufgehenden Sonne? EZB-Chef Mario Draghi muss sich in den letzten Tagen seiner Amtszeit vermehrt Kritik anhören, seine Geldpolitik bringe japanische Verhältnisse nach Europa.

Foto: Reuters / Kai Pfaffenbach

Kein Ende war in Sicht. Als die Spekulanten Mitte der Achtzigerjahre über japanische Immobilien herfielen, stiegen die Preise raketenhaft an. Auf dem Höhepunk, im Jahr 1991, wurde das Areal des Kaiserpalastes im Herzen Tokios wertvoller als der gesamte Grund des US-Bundesstaats Kalifornien geschätzt. Und dann platzte die Blase.

Heute noch liegt der Leitindex der Börse Tokio weit unter seinem Höchststand. Aber auch die Realwirtschaft befindet sich seit Jahrzehnten in stabiler Seitenlage. Das allgemeine Preisniveau stagniert seither, obwohl die japanische Notenbank den Leitzins von über sechs Prozent auf mittlerweile unter null senkte.

Das Wachstum in einer der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt lag in den zehn Jahren nach dem Crash bei rund 1,5 Prozent im Jahr, Tendenz fallend.

Déjà-vu nach der Krise

Ein krisengebeuteltes Europa blickt auf Japan mit einem mulmigen Gefühl des Déjà-vu. Zu Recht? Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten frappant: Zehn Jahre nach der Finanz- und Eurokrise hat die Währungsunion sogar noch weniger Dynamik entfaltet als Japan im Jahrzehnt nach seinem großen Immo-Crash (siehe Grafik). Die Zinsen sind im Keller und von Inflation keine Spur. Eine Mitschuld an den vielfach beschworenen japanischen Verhältnissen in der Eurozone geben Kritiker Mario Draghi.

Der scheidende Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat sich mit seiner ultralockeren Geldpolitik nicht nur Freunde gemacht. Vor seinem Abtritt setzte der Italiener eine Wiederauflage des umstrittenen Anleihenkaufprogramms durch. Rund ein Drittel des EZB-Rats war gegen diese weitere Lockerung. Ihren Unmut äußerten Draghis Widersacher ungewohnt öffentlich. Denn was in Japan passiert ist, soll in Europa nicht zur Norm werden, sagen sie.

Große Bilanz, kleiner Effekt

Japan lebt es vor: Die Notenbank bläst ihre Bilanz massiv auf und kauft japanische Staatsanleihen. Tokio steht mittlerweile mit dem Doppelten der Wirtschaftsleistung in der Kreide. Doch diverse Konjunkturpakete auf Pump haben die guten alten Zeiten nicht wiedergebracht.

Auf der Kehrseite verdichten sich Hinweise, dass Zombie-Unternehmen gedeihen. Gemeint sind unprofitable Firmen, die sich mit teils negativ verzinsten Anleihen über Wasser halten. Im Japan nach der Krise wurden solche Zombie-Firmen von den Banken weiter mit Krediten versorgt, da die Geldhäuser davor zurückschreckten, die Ausfälle auf ihre Bücher zu nehmen.

Ein niedriges Zinsumfeld würde das Problem aber verstärken: Weniger produktive Firmen bleiben künstlich im Wettbewerb, wie der Ökonom Philippe Aghion mit Kollegen jüngst in einer Studie zeigte. Steigende Zinsen, wie sie in Aufschwungphasen üblich sind, könnten "reinigend" wirken und die Produktivität erhöhen, sagen die Forscher. Doch der jüngste Aufschwung ist allen Erwartungen nach vorbei, und die Zinsen in der Eurozone – wie in Japan, aber anders als in den USA – blieben unverändert.

Altern drückt Zinsen

Das könnte in den kommenden Jahren zum Problem werden, wenn sich japanische Verhältnisse abseits der Geldpolitik in Europa einstellen. Vor allem beim demografischen Wandel, erklärt der Chefökonom der Uniqa-Versicherung, Martin Ertl, im Gespräch mit dem STANDARD. Die Nachkriegsgeneration hat große Vermögen angespart.

Den Älteren kommen insbesondere im migrationsabgeneigten Japan weniger Junge nach. Dieser Überhang an Sparern drückt auf den "natürlichen Zinssatz", wie ökonomische Modelle zeigen. Laut Ertl zeigen Prognosen, dass die Alterung in Europa bis mindestens 2030 auf die Zinsen drückt.

Was bedeutet das für die EZB? Sie verstärk diesen Trend noch. Das erklärt, warum Kritiker nun auf den Plan treten, obwohl Draghis unmittelbare Antwort auf die Krise fast unumstritten war. "Angesichts der Langlebigkeit müsste man sich genau überlegen, wie man in diesem Umfeld Geld zur Seite legt", sagt Ertl. Die EZB macht Sparern einen Strich durch die Rechnung. Das könne keine "permanente Geldpolitik" sein, meint der Ökonom.

Ein Blick nach Japan lässt daran aber zweifeln. (Leopold Stefan, 29.10.2019)