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Kochtopfprotest in Santiago.

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Festnahme in Santiago.

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Pfeffersprayeinsatz.

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Polizisten führen eine Demonstrantin ab.

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Nach einer Woche landesweiter Proteste, die 17 Todesopfer forderten und zu über 7.000 Festnahmen führten, bemüht sich Chiles Präsident Sebastian Piñera, die Lage zu beruhigen. Am Sonntag forderte er sein gesamtes Kabinett zum Rücktritt auf, am Montag wechselte er Innen-, Wirtschafts- und Finanzminister aus.

Als am Abend des 18. Oktober die Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen in der Hauptstadt Santiago eskalierten, wurde Piñera in einem italienischen Restaurant im Nobelstadtteil Vitacura fotografiert. Tags darauf erklärte er, das Land befinde sich "im Krieg mit mächtigen Gegnern", in einem abgehörten Telefonat, das an die Öffentlichkeit gelangte, sprach seine Gattin Cecilia Morel von einer "Invasion Außerirdischer" und erklärte ihrer Gesprächspartnerin, man werde wohl "unsere Privilegien etwas zurücknehmen und mit den anderen teilen" müssen.

Solidaritätsdemo für Chile in Wien.
DER STANDARD

Mittlerweile hat sich Piñeras Tonfall geändert: Die Demonstrationen vom Freitag, bei denen landesweit mehr als eine Million Menschen auf die Straße gingen, nannte er tags darauf einen "schönen Marsch für alle". Das Wahlvolk nimmt dem Milliardär seinen Sinneswandel offenbar nicht ab: Lediglich 14 Prozent der Befragten erklärten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem, seine Amtsführung zu unterstützen, 78 Prozent finden, dass er schlecht regiert. Das sind die schlechtesten Umfragewerte für einen Staatschef seit dem Ende der Militärdiktatur vor 30 Jahren, in nur einer Woche hat sich Piñeras Beliebtheit halbiert.

Die Österreicherin Elisabeth Simbürger, die an der Universität Valparaíso Soziologie lehrt, berichtet im STANDARD-Gespräch, dass Piñeras Ministeraustausch nicht ernst zu nehmen sei: "Immer noch stellt die Rechtspartei Udi die Bildungsministerin, auch die Minister für Verkehr und Gesundheit bleiben im Amt, obwohl gerade in diesen Ressorts folgenschwere Fehler begangen wurden."

Blumel wird Innenminister

Seinen Posten räumen muss Piñeras Cousin Andrés Chadwick, der als Innenminister für den Polizeieinsatz gegen Demonstranten verantwortlich war und vom bisherigen Präsidentschaftsstaatsekretär Gonzalo Blumel ersetzt wird. Auch Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaine, der erklärt hatte, wer sich über die zu Stoßzeiten bis zu zweistündige Wartezeit vor überfüllten U-Bahn-Stationen beschwere, solle doch einfach früher aufstehen, wurde abgelöst, ebenso Finanzminister Felipe Larrain.

Dass die Regierungsumbildung ein Ende der Proteste bewirken könnte, schließt Simbürger aus: "Die breite Mittelschicht, aber auch die Unterschicht in Chile wollen einfach ein menschenwürdiges Leben führen."

Die Proteste richten sich vor allem gegen das private Gesundheits-, Erziehungs- und Pensionssystem. Wer dafür bezahlen kann, erhält Leistungen auf europäischem oder US-Niveau, doch breite Bevölkerungsschichten bleiben ausgeschlossen. Obwohl das jährliche Durchschnittseinkommen mit 25.879 Euro das höchste Lateinamerikas ist, klafft die Einkommensschere zwischen Reich und Arm laut Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Chile um 65 Prozent weiter auseinander als im OECD-Durchschnitt. Die Hälfte der Arbeiter verdient nicht mehr als 550 Dollar (496 Euro) im Monat.

Machtlose Linke

Chiles Parteien wurden von der Protestbewegung überrascht: "Die Mitte-rechts-Parteien", berichtet Simbürger, "haben sich erwartungsgemäß kaum zu Wort gemeldet, und linke Gruppen profitieren zwar von den Protesten, sind aber durch Chiles noch von der Militärregierung erarbeitete Verfassung aus dem Jahr 1980, die einen Wandel ohne Beteiligung der Rechten praktisch unmöglich macht, benachteiligt." Bei den Demonstrationen sieht man deshalb immer wieder Transparente, auf denen eine Verfassungsreform gefordert wird.

Polizei und Militär haben offiziellen Angaben zufolge seit Beginn der Proteste 7.000 Personen festgenommen. Das nationale Menschenrechtsinstitut hat 18 Fälle sexueller Übergriffe durch Sicherheitskräfte dokumentiert, dazu kommen zahlreiche Personen, die seit Beginn der Proteste spurlos verschwunden sind. Da manche nach Tagen im Polizeigewahrsam wieder auftauchen, gibt es aber keine zuverlässigen Zahlen. Meldungen, dass über 120 Personen vermisst wurden, dementierte das Menschenrechtsinstitut vor einer Woche.

Auch die NGO Abofem (Feministische Anwältinnen Chiles) berichtet von Foltermethoden, die zu Pinochets Zeiten angewendet wurden: So seien festgenommene Demonstrantinnen gezwungen worden, sich auszuziehen, Soldaten hätten ihre Geschlechtsteile berührt und sie gezwungen, in schmerzhaften Positionen zu verharren.

Militäreinsatz in Valparaíso.

Der 20-jährige Student Bernardo Bórquez, der seit Donnerstag verschwunden war, wurde am Montagmorgen tot in einem Straßengraben aufgefunden.

In der 200.000-Einwohner-Stadt Iquique im Norden des Landes wurde in der Nacht auf Montag der Studentenaktivist Rodrigo Martínez aus seiner Wohnung geholt. Ein von einem Nachbarn aufgenommenes Video zeigt, wie er seinen Namen und seine Steuernummer ruft.

Mitte November findet in Chile der Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft statt, bei dem US-Präsident Donald Trump möglicherweise das langerwartete Handelsabkommen mit China unterzeichnen wird. Es wird erwartet, dass die Protestbewegung die internationale Aufmerksamkeit nutzen wird, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Bisher haben sich ausländische Politiker kaum zu den Protesten geäußert.

Fernsehen und Zeitungen, die großteils von Rechtsparteien und Industriellen kontrolliert werden, berichten kaum über die Demonstrationen, so Simbürger. Lediglich über soziale Medien und alternative Radiostationen erfahre man von Menschenrechtsverletzungen. Unter dem Hashtag "was das Fernsehen nicht zeigt" (#LoQueLaTeleNoMuestra) finden sich zahlreiche Beispiele. (Bert Eder, 29.10.2019)