Türkische Panzer in Nordsyrien.

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Der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, bei einer Pressekonferenz im Pentagon Washington DC.

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Von Ankara unterstütze arabische Milizen in Ras al-Ayn

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Istanbul / Tell Abyad / Akçakale – Das US-Repräsentantenhaus stimmte am Dienstag mit großer Mehrheit für eine Resolution, Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, weil diese mit Truppen in den Norden Syriens einmarschiert waren. Ziel der Sanktionen sollen das Land selbst und türkische Vertreter sein. Sowohl Demokraten als auch viele Republikaner wollen dadurch einen Stopp des türkischen Einsatzes erzwingen.

Die Reaktion der Türkei ließ nicht lange auf sich warten: Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu verurteilte das Ergebnis der Abstimmung. Sanktionen würden dem vereinbarten Waffenstillstand zuwiderlaufen. Gleichzeitig stellte er die Übergabe der türkisch kontrollierten Gebiete an die syrische Regierung in Aussicht.

Wenn die syrische Regierung in der Lage sei, ihr Territorium zu schützen und "Terrororganisationen" zu bekämpfen, "ich denke, dann sollten alle Gebiete an Syrien übergeben werden", sagte er. Er betonte, dass die Türkei Regionen in Nordsyrien sowohl von der Kurdenmiliz YPG als auch von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) "gesäubert" habe.

Kämpfe zwischen Türkei und Syrien

Zuvor war es am Dienstag erstmals zu Gefechten zwischen der türkischen Armee und syrischen Truppen gekommen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte am Dienstag mit, türkischer Artilleriebeschuss habe die syrischen Truppen nahe der Grenze getroffen. Daraufhin sei am Rande des Dorfes Al-Assadiya ein Gefecht entbrannt. Bei den Kämpfen sollen laut der Beobachtungsstelle sechs syrische Soldaten getötet worden.

Demnach wurden fünf syrische Soldaten durch türkischen Artilleriebeschuss in der Nähe von Al-Assadiya südlich der Grenzstadt Ras al-Ayn getötet. Ein Sechster sei im Zuge des Gefechts von protürkischen Milizen ermordet worden. Die Angaben der in London ansässigen, oppositionsnahen Organisation, die ihre Informationen von Aktivisten vor Ort bezieht, können nicht verifiziert werden.

Das türkische Verteidigungsministerium verlautbarte am Dienstagabend, dass 18 syrische Soldaten gefangen genommen wurden. Das Vorgehen sei mit Russland abgesprochen gewesen.

Waffenruhe läuft aus

Kurz davor hatte die Türkei angesichts der ablaufenden Waffenruhe mit weiteren Kampfhandlungen gedroht. Kurz vor der angesetzten Frist um 16 Uhr MEZ kündigte Moskau dann an, dass sich die Kurdenmiliz YPG wie vereinbart aus dem Norden Syriens zurückgezogen habe. Insgesamt 34.000 Soldaten mitsamt ihrer Waffen wurden aus der Pufferzone abgezogen. Nun hätten dort syrische Grenztruppen und die russische Militärpolizei die Kontrolle übernommen, sagte Verteidigungsministers Sergej Schoigu der Agentur Interfax zufolge am Dienstag. Die vereinbarte Waffenruhe dürfte nun weiter gelten.

Die Türkei will gemeinsam mit Russland im Nordosten Syriens aber dennoch gemeinsam patrouillieren, um sicherzustellen, dass die YPG-Soldaten tatsächlich abgezogen sind. Das sagte ein hoher Beamte aus dem Kreis des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag zu Reuters.

Die Türkei hatte knapp zwei Wochen nach Beginn ihres Militäreinsatzes gegen die YPG am 22. Oktober mit Russland als Schutzmacht der syrischen Regierung ein Abkommen geschlossen, das der YPG 150 Stunden Zeit zum Abzug geben sollte.

Abzug läuft laut Ankara "nach Plan"

Die Türkei betrachtet die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation. Ziel ihrer Offensive war der Rückzug aller Kurdenmilizen aus dem Grenzstreifen.

Die Türkei hatte zuvor ein weiteres Abkommen mit den USA geschlossen, die lange mit der YPG gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zusammengearbeitet hatten. Es galt für einen Teil des Grenzareals zwischen den syrischen Städten Tell Abyad und Ras al-Ayn. Die USA hatten zum Ende der Abzugsfrist unter Berufung auf Kurdenquellen gesagt, alle Kämpfer hätten das Gebiet verlassen. Laut Berichten halten die Gefechte dort weiter an. Çavuşoğlu sagte, "einzelne" Kämpfer seien immer noch vor Ort. Die Türkei werde "die Terroristen, die noch dort sind oder die, die noch nicht abgezogen sind, ebenfalls neutralisieren".

Gipfel zum Kampf gegen den IS

Die US-Regierung will mit ihren Verbündeten Mitte November über den weiteren Kampf gegen den IS beraten. Außenminister der rund 80 Staaten der Koalition gegen den IS würden sich am 14. November in Washington treffen, "um die nächsten Schritte des gemeinsamen Einsatzes zum nachhaltigen Sieg" zu besprechen, erklärte das US-Außenministerium.

Am Wochenende war der bisherige IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi bei einem Militäreinsatz der USA im Nordwesten Syriens zu Tode gekommen. Dessen sterbliche Überreste sind inzwischen auf hoher See bestattet worden. Die USA hätten Baghdadi bei der Beisetzung religiöse Riten nach islamischen Brauch gewährt, sagten drei US-Beamte der Nachrichtenagentur Reuters. Genaue Angaben zum Ort und Verlauf wurden nicht bekannt. Zwei Beamte sagten, sie glauben, dass die sterbliche Überreste von einem Flugzeug aus ins Meer abgelassen wurden.

DER STANDARD/AFP

Der Generalstabschef der US-Streitkräfte, Mark Milley, bezeichnete bei einer Pressekonferenz Baghdadis Bestattung als "angemessen": Diese sei "gemäß den militärischen Prozeduren und dem Kriegsrecht" gehandhabt worden. "Es ist erledigt und abgeschlossen."

Am Dienstag bestätigte der US-Präsident auf Twitter, dass auch jener Mann von US-Soldaten getötet worden sei, der aller Voraussicht nach al-Baghdadis Nachfolge angetreten hätte. Trump nannte keinen Namen, jedoch hatte das Weiße Haus bereits am Montag berichtet, dass auch Abu Hassan al-Muhajir, IS-Sprecher und al-Baghdadis rechte Hand, bei einem weiteren Einsatz getötet wurde.

Anhand seiner Unterwäsche identifiziert

Baghdadi war während des US-Angriffs in Syrien in einen Tunnel geflüchtet, wo er sich selbst und einige seiner Kinder in die Luft sprengte. Seine Überreste wurden laut Milley zunächst für DNA-Tests an einen sicheren Ort gebracht. Die Tests bestätigten, dass es sich um den IS-Anführer handelte. US-Präsident Donald Trump sagte, der IS-Chef sei "wimmernd und weinend und schreiend" davongerannt. Diese Angaben konnte Milley nicht bestätigen.

Nach kurdischen Angaben wurde Baghdadi anhand von DNA an seiner Unterwäsche identifiziert. Ein Geheimagent der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) habe die Unterwäsche vor dem Einsatz entwendet, erklärte Polat Can, ein ranghoher Vertreter der SDF, am Montag auf Twitter.

Demnach arbeiteten die SDF seit Mitte Mai mit dem US-Geheimdienst CIA zusammen, um Baghdadi aufzuspüren und zu überwachen. Der IS-Chef habe seinen Aufenthaltsort sehr oft gewechselt, schrieb Can. Dem SDF-Agenten sei es gelungen, mit ihm in Kontakt zu treten und seine Unterwäsche für einen DNA-Test zu entwenden, "um sicherzugehen, dass die betreffende Person Baghdadi selbst war".

Türkische Invasion verzögerte Operation

Dass es zu dem US-Einsatz in Syrien gekommen sei, sei größtenteils das Ergebnis der SDF-Geheimdienstarbeit gewesen, schrieb Can auf Twitter. Die Anfang Oktober eingeleitete türkische Offensive in Nordsyrien habe die Operation verzögert. Trump hatte in seiner Ansprache den syrisch-kurdischen Streitkräften "für eine gewisse Unterstützung" gedankt, jedoch keine weiteren Details genannt.

Der IS hat seine einstigen Herrschaftsgebiete im Irak und in Syrien verloren und gilt militärisch als besiegt. Laut einem Bericht der Anti-IS-Koalition vom Juni halten sich in dem Gebiet aber noch zwischen 14.000 und 18.000 Anhänger auf, darunter 3.000 Ausländer. Experten warnen, dass diese den passenden Zeitpunkt für ihren nächsten Aufstand abwarten würden. Auch könnten die Extremisten unter neuer Führung wieder an Schlagkraft gewinnen. Örtliche Ableger des IS – etwa in der Sahelzone oder in Somalia – operieren nach Ansicht von Experten ohnehin relativ unabhängig. (red, APA, Reuters, dpa, 29.10.2019)